1.
Am Ausgang des
20. Jahrhunderts lebten am Balkan (ohne die Bevölkerung im
europäischen Teil der Türkei in Betracht zu ziehen) etwa 7 bis 8
Millionen Muslime. Im Unterschied zur etwa denselben Anzahl der
als Gastarbeiter, Kriegsvertriebene oder aus anderen
Beweggründen nach Europa übersiedelten Moslems (die meisten
davon in der BRD, in Frankreich und in Großbritannien) stellen
die Anhänger dieser Weltreligion in Südosteuropa eine alte
autochthone Gruppe dar. Die
muslimischen Gemeinschaften sind dort als ein Erbe der
Jahrhunderte langen osmanischen Herrschaft zu betrachten, da der
Islam erst mit der Expansion der osmanischen Türken seinen
festen Fuß in der Region faßte. Gewiß gibt es Anzeichen von
eventuellen islamischen Einflüssen in der vorosmanischen Zeit
oder sogar bereits vor der Christianisierung der Bulgaren im
Jahr 864. Doch alle Versuche, die Existenz muslimischer Gruppen
auf dem Balkan schon vor der Türkenzeit nachzuweisen, sind nicht
genug überzeugend und eher als moderne Mythen der sich
emanzipierenden neuen „muslimischen Geschichtsschreibung“ zu
beurteilen. Dazu gehört auch die von dem schon verstorbenen
bekannten österreichischen Bosnien und Islamexperte Smail Balić
vertretene These, daß es muslimische Bevölkerungsinsel in diesem
Teil Europas schon seit dem 9. Jahrhundert gegeben hatte und die
sogenannten
Saqaliba
als „Prätorianer
der maurischen Kalifen von Cordoma“ in Zusammenhang mit den
Balkanslawen gebracht werden müßten.[1]
Der Islam drang
also im Züge der osmanischen Eroberungen ein. Seine orthodoxe
Version - der
Sunnismus
- lies
sich auf dem Balkan mittels der osmanischen Administration und
der Diener des religiösen Kultes,[2]
aber auch
dank der ökonomischen Migration von TurkmenerBevölkerung aus
Kleinasien, und zwar sowohl von Nomaden (die sogenannten
Yürüken),
als auch von schon eingesessenen Agrar- und handwerklichen
Stadtbevölkerung,[3]
nieder. Eine große
Rolle bei der Verbreitung des neuen Glaubens unter den
Einheimischen spielten auch die heterogenen muslimischen Sekten
und Brüderschaften, dessen Ritus- und Glaubenssystem, das in
sich die Verehrung von Heiligen einschloß, Christen und Moslems
annäherte[4]
und denjenigen
Modul des Zusammenlebens und gegenseitiger Hilfe schuf, der in
der Balkanethnologie als „Komschuluk“ (aus türk.
komşu
‘Nachbar’) bezeichnet wird. Besonders die
Bektaschîs
müssen
hier erwähnt werden, die mit ihrem religiösen Synkretismus, der
auch des Volkschristentums nah stehende Elemente beinhaltete,
den Konvertiten seinen Weg im neuen Glauben erleichterten. Nicht
zufällig findet man ihre Spuren fast überall dort, wo es sich um
eine breitere Islamisierung der einheimischen Bevölkerung
handelte (so in Bosnien, in Albanien), wobei im Falle der
Albaner die „Bektašiyya“
fast zu einen „nationalen Glaube“ wurde. In diesem Sinne ist der
Islam in Südosteuropa traditionellerweise ganz mäßig, er
charakterisiert sich mit einer toleranten Einstellung gegenüber
der Fremdartigkeit der „Anderen“ und deren Kultur, und die
Vertreter dieser Konfession - nicht nur in Bosnien - betrachten
sich eher als „europäische Moslems“, die fremd jedes religiösen
Fanatismus sind.[5]
Als einen Teil der
osmanischen Hinterlassenschaft findet man fast überall auf dem
Balkan muslimische Gemeinden. Sogar im entferntesten
nordwestlichen Teil der Region (von der Türkei her betrachtet)
wurden 1991 in Slowenien 26 726 Muslime (1,4 % der
Bevölkerung) registriert, die sich zur „jugoslawischer Zeit“ in
der katholisch geprägten Teilrepublik niederließen. Viel größer
ist die muslimische Bevölkerungsanteil in den westlichen,
südlichen und südöstlichen Gebieten des Balkans. 1981 rechnete
man z. B. mit 1 999 890 „Muslime im
nationalen Sinne“ in der Bundesrepublik Jugoslawien (8,9 % der
Bevölkerung). Davon wurden 1 629 924
Muslime in Bosnien und Herzegowina (39,5 %), 2374 in Kroatien
(0,5 %), 13 425 in Slowenien (0,7 %), 78
080 in Montenegro (13,4 %), 39 555 in Mazedonien (2,1
%) und 215 166 in Serbien (2,3 %) [also 151
674 Muslime in engeren Serbien (2,7 %), 58 562
in Kosovo (3,7 %) und 4930 in Wojwodina (0,2 %)] registriert.
Zehn Jahre später waren sie 1991 bundesweit auf 2 353
002 Menschen angestiegen (10,0 % der Gesamtbevölkerung),
wovon der größte Teil - 1 905 829 (43,7 %)
- Bosnien und Herzegowina bewohnte. Aber auch in Bulgarien wurde
13,1 % der Gesamtbevölkerung 1992 als muslimisch registriert
(davon 800 032 Türken und 4515 Tataren, die zusammen
9,5 % der Bevölkerung ausmachten, ferner vielleicht etwa 200
000 Pomaken und 113 000 muslimische Roma). In
Rumänien gab es in demselben Jahr 24 649 Tataren und
23 369 Türken (insgesamt 0,2 % der Bevölkerung). In
dem neuen unabhängigen makedonischen Staat zählte man 1994
offiziell 16 100 Muslime (0,8 %), 81 600
Türken (3,9 %) und 479 000 vorwiegend muslimische
Albaner (23,1 %), die nach ihrer Selbsteinschätzung weit mehr
etwa um 30-40 % der Gesamtbevölkerung ausmachen sollten. Albaner
(meisten Muslime) waren 1991 auch in Montenegro mit 40
880 (6,6 %) Menschen und in Serbien mit 1 686
700 (17,2 %) Menschen, darunter nur in Kosovo mit 1
226 736 (77,4 %) Menschen sehr stark vertreten.
Und unter den 1989 gezählten 3 117 600
Einwohner Albaniens selbst bekennen sich etwa 70 % (d. h. 2
182 320 Menschen) zum Islam. Kleinere
muslimische Gruppen von Türken, Pomaken und Roma gibt es auch in
Griechenland sowie nördlich der Linie Donau und Save, die den
eigentlichen Balkanraum von dem Rest Südosteuropas trennt.
2.
Somit kann man - mit gewissen Einschränkungen - von dem
Vorhandensein einer
überregionalen muslimischen Minderheit
sprechen, ähnlich wie die
der Juden, der Roma, aber auch der Deutschen, Armenier usw.
Diese Vorstellung scheint vielleicht in der
Südosteuropa-Forschung schon verankert zu sein und so befassen
sich die Verfasser des nützlichen „Studienhandbuches
Östliches Europa“
(Bd. 1. „Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas“, Böhlau
Verlag, 1999) im Abschnitt „Länderübergreifende ethnische und
religiöse Gruppen“ mit den Muslimen neben den Armeniern,
Aromunen, Deutschen, Griechen, Juden und Zigeunern (Roma). Aber
auch in einem interessanten Projekt der Uni Bonn, an der während
des Wintersemesters 2003/2004 über die „Minorities
on the Balkans - Historical Background“
diskutiert wurde, wurden als „supraregionale
Minderheiten“ neben
Deutschen, Juden, Sinti und Roma sowie Vlachen auch die „Muslime
(einschl. Muslimische Minderheiten)“ behandelt.
Formell angesehen
kann eine solche Einordnung, also die Systematisierung der
Minderheiten in drei überschaubaren Gruppen (supraregional,
regional und subregional), aus ganz pragmatischen Gründen
berechtigt sein. Doch bei den Muslimen stoßen wir auf einen
„Sonderfall“. Alle der übrigen „supraregional Minorities“ bzw. „länderübergreifenden
Gruppen“ sind ethnische oder nationale Minderheiten (nur bei
Juden fällt die ethno-nationale und die religiöse Identität fast
völlig zusammen), zu denen Muslime nun als eine konfessionelle
Einheit zugefügt werden. Vielleicht funktionierte das Schema
ohne weiteres nur im Rahmen des ehemaligen Jugoslawiens, worin
seit 1971 einen Teil der Muslime (vor allem die heutigen
Bosniaken) auch zur „Muslime im nationalen Sinne“ erklärt
wurden. Außerhalb dieser Zeit- und Raumspanne sollte den Begriff
von „supraregional“ in bezug auf die Muslime nur mit Vorbehalt
verwendet werden.
Die Muslime sind
gewiß zu einer überregionalen Minderheit geworden, weil sie -
ähnlich wie die Juden, die Roma u. v. a. - fast überall am
Balkan beheimatet sind, doch sie stellen keine einheitliche
Gruppe dar. Schon im religiösen (also im subkonfessionellen)
Bereich nicht, geschweige denn von ihrer ethnischen Struktur.
3.
Zu
Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Muslime Südosteuropas
schwerlich als ein einheitliches Ganzes zu betrachten. Der
überwiegende Teil davon sind orthodoxe
Sunniten
aus der hanefitischen Richtung. Sie sind Träger des
traditionellen türkischen Islams, der im Osmanischen Reich
gepflegt und weiterentwickelt wurde. In Bulgarien bildeten z. B.
1992 die Sunniten 12,05 % der Gesamtbevölkerung oder 92,56 %
aller Moslems (1 026 756 Menschen). Und in
post-osmanischen Albanien machten die Sunniten 55 % der
Bevölkerung aus, zu denen sich die 15 % Bektaschi-Anhänger (also
insgesamt 70 % Muslime), 20 % Ost-Orthodoxe und 10 %
römisch-katholische Albaner anschlossen (eine Proportion, die
sich bis in die jüngste Zeit beibehalten haben sollte).
Eine viel kleinere
Anzahl von Gläubigen sind
Schiiten.
Etwa 7,44 % aller Moslems in Bulgarien gehörten 1992 zu dieser
Glaubensrichtung des Islams (83 537 Menschen, 0,98 % der ganzen
Bevölkerung). Das sind die sogenannten
Kizilbaschi
oder
Aliani,
Aleviten
- Anhänger Ali’s,
der Schwager Mohammeds, der von seinen Verehrern für Nachfolger
des Propheten gehalten wird. Die Schiiten am Balkan könnte man
als ein Produkt der Tätigkeit nicht orthodoxer islamischen
Sekten und Brüderschaften oder aber auch als ein Ergebnis von
Umsiedlungen der Bevölkerungsgruppen aus kurdischen Anatolien
und anderen Gebieten des Reiches, besonders im Zusammenhang mit
den osmanisch-iranischen Kriegen, betrachtet werden. Im
sunnitischen Milieu führen sie ein relativ geschlossenes
Religionsleben und grenzen sich durch Einzelheiten in der
rituellen Praxis und Traditionen von der übrigen muslimischen
Bevölkerung ab. Neben den Aleviten in Bulgarien und Mazedonien
(z. T. auch in Griechenland) sowie unter manchen pomakischen
Kleingruppen, sollte man vielleicht ferner die
Bektaschî-Gemeinde
besonders unter den Albanern erwähnen, die mit den Aleviten
viele gemeinsame Glaubenselemente und Praktiken teilt. Seit
ihrem VI. Weltkongreß in Tirana (1993) betrachten sich die
Bektaschîs eher als eine von den Sunniten unabhängige
Glaubensgemeinschaft und nicht mehr als eine Sekte oder einen
Derwisch-Orden im Rahmen des orthodoxen Islams.
Auf dem Balkan gab
es bislang keine Anhänger der
Haridschiten,
derjenigen Puritaner und Fundamentalisten, die für die arabische
Welt charakteristisch sind und zur Einhaltung der strengen
sittlichen Normen sowie zur Rückkehr zu den Wurzeln des „reinen“
Islams auffordern. Auch die
wahabitische
Interpretation des Islams, so wie sie in Saudi Arabien
beheimatet worden ist, fand am Balkan keine Verbreitung. Doch
nachdem der Islam während des Bosnien-Krieges für die Bosniaken
zum wichtigsten identitätsstiftenden Merkmal wurde, nachdem die
muslimischen Staaten (vor allem Saudi Arabien) als Gegenleistung
für ihren Beistand eine stärkere Beachtung der islamischen
Vorschriften fordern konnten und nachdem sich mit dem Kriegsende
manche arabische
Mudschahiddins
im Lande
niederließen, wo sie ungestört ihre eigenen Vorstellungen von
dem Islam praktizieren und weiterverbreiten dürfen, konnten mit
der Zeit auf dem Balkan auch Zentren eines islamistischen oder
gar islamisch-fundamentalistischen Gedankengut entstehen. Ende
der 90er Jahre sicherte man Missionare aus der
arabischen Welt und aus dem Pakistan, die den herkömmlichen
Glauben der Pomaken in Bulgarien „verbessern“ wollten. Auch
Anhänger des sogenannten Kalifen von Köln fand man neulich unter
der muslimischen Romabevölkerung. Und Fälle der Aktivierung
islamistischer Propaganda gab es ferner in Mazedonien, Albanien,
Bosnien und in anderen Staaten Südosteuropas.
4.
Nicht nur im konfessionellen Bereich sondern auch nach ihrer
Muttersprache und daher nach der vermutlichen ethnischen
Zugehörigkeit unterscheiden sich die Balkanmuslime stark
voneinander. Dabei differieren sie auch nach ihrer regionalen
und staatlichen Verteilung. Wenn in Bulgarien z. B. die
zahlreichste Minderheitengruppe die der türkischen Bevölkerung
war und ist (1992 etwa 9,42 bis 9,58 % der Gesamtbevölkerung),
sind die Türken
in anderen Ländern
Südosteuropas nicht so stark als eine Minderheit vertreten. 1991
machten sie nur 1621 Menschen im engeren Serbien und 12
513 Menschen (0,8 %) in Kosovo, sowie vielleicht 97 416
Menschen (4,79 %) in Mazedonien und nur 67 Menschen in
Montenegro (während es für die anderen Teilrepubliken der BR
Jugoslawien keine Angaben bezüglich der Türken gab). In Rumänien
wurden 1992 weniger Türken als Tataren gemeldet (23
369 Menschen, 0,1 %) und 1994 rechnete man in Mazedonien mit 81
600 Angehörige dieser ethnischen Gruppe (3,9 %).
Sehr nah an
die Türken stehen in ethnolinguistischer Hinsicht die
Tataren,
die im Unterschied zu den vom Süden her auf dem Balkan
gekommenen Osmanen einen Teil der nördlichen Migration der
Kiptschaken darstellten. Noch im 13. Jh. ließen sich tatarische
Gruppen im Donau Tiefebene, einschließlich in der Walachei
nieder. Während der osmanischen Zeit wurden günstige Bedingungen
für die Ansiedlung von Tataren in der Dobrudscha geschaffen, die
daher die Bezeichnung „Klein Tatarien“ in Analogie zur
byzantinischen „Klein Skythien“ (Σκυθια
μινορις)
erhielt. Große Einwanderungen gab es nach der Eroberung des
Krim-Chanates durch Rußland (1783) und um den Krimkrieg
(1853-56), als etwa 60 000
Krimtataren
in der Dobrudscha, im Donauflachland und im Gebiet von Vidin
ansiedelten. Ihre Nachkommen, die eigene Identität aufbewahrten,
bilden die Gruppe der Tataren in Bulgarien[6]
und Rumänien
(1992 wurden dort offiziell 4515 bzw. 24 649 Tataren
registriert), obwohl es auch kleinere Gemeinden von
Nogaier,
Tats,
Kirisch,
Schora,
Karatschaier
usw. gibt, deren
Mundarten sich mit der Zeit vereinheitlichten,[7]
sowie eine Gruppe
der sog. „Tatar
Schengene“
(tatarische Zigeuner), die z. T. Türkisch und Tatarisch
sprechen. Die politische Turzisierung der Tataren fing Ende der
20-er Jahre an,[8]
so daß man
mit der Zeit die Tataren als einen Teil der türkischen
Minderheit zu betrachten begann.[9]
Auch bei den
„türkischen
Zigeunern“ (horohane
Roma)
ist der Assimilationsprozeß so vorangetrieben, daß sich mehr als
die Hälfte (etwa 61 %) untereinander nur auf Türkisch
verständigen. Eine andere Volksgruppe, die
Tscherkesen,
wurde von den Türken schon fast vollständig assimiliert, so daß
1992 in Bulgarien lediglich 573 ihrer Vertreter gezählt werden
konnten. In den anderen Staaten Südosteuropas einschließlich im
östlichen Bosnien, wo die Pforte im 19. Jh. viele Tscherkesen
als Bollwerk gegen die Serben ansiedelte, sind die Tscherkesen
heute so gut wie unbekannt.
Außerhalb der
turkophonen bzw. sprachlich turzisierten Muslime sind auf dem
Balkan zahlreiche Nachkommen der zum Islam konvertierten
einheimischen Bevölkerung zu vermerken, die ihre eigenen
Mundarten beibehielten. Darunter stellen die muslimischen
Albaner
z. B., die
weiterhin etwa 70 % der albanischen Bürger ausmachen, die
Mehrheit in ihrem eigenen Staat dar. Aber auch in den von
Albanern bewohnten benachbarten Gebieten (in Montenegro,
Mazedonien, Serbien und vor allem in Kosovo), ist die albanische
Bevölkerung mehrheitlich muslimisch. Als eine relative Mehrheit
im eigenen Staate darf man ferner die
Bosniaken
betrachten,
die man früher unter „Muslime im nationalen Sinne“
zusammenfaßte. Der mit dem Kriege verstärkte Prozeß des
Identitätswandels führte bei ihnen zu allerlei Abgrenzungen von
den Serben und den Kroaten, einschließlich durch die künstliche
„Orientalisierung“ und Absonderung des Bosnischen als einen
neuen Zweig der gemeinsamen serbokroatischen Sprache. In wie
fern die serbisch sprechenden Muslime von Sandschak, die mit 2
291 160 Menschen 1991 etwa 52 % der dortigen
Bevölkerung ausmachten, sich künftig als Bosniaken fühlen und ob
sie zu einer „bosniakischen nationalen Minderheit“ entwickeln
würden, bleibt es abzuwarten. Doch sie scheinen nicht diejenigen
Probleme der Identifizierung zu haben, die das Leben der
muslimischen Roma begleiten und auch für die Bulgarisch oder
Makedonisch sprechenden
Pomaken
(Achrjane,
Torbeschi,
Goranci)
eigen sind. Somit kommen wir schließlich zu einer der am
stärksten umstrittenen muslimische Gruppe am Balkan.
5.
Die unter verschiedenen Namen bekannten
BulgarenMoslems
(Pomaken)
sind eine
Gebirgsbevölkerung, die in fünf Staaten beheimatet ist und früh
im Blickfeld der sich konkurrierenden Nationalismen geriet. Man
setzt ihre Anzahl auf fast 500 000 Menschen, wovon
zwischen 80-120 000 in Albanien, fast 40
Tausend in Griechenland und Mazedonien und etwa 150-200
000 in Bulgarien leben.[10]
In der
Türkei selbst wurden 1965 ungefähr 20 000 Menschen
mit einer pomakischen Muttersprache (‘Pomakça’)
registriert, die meistens Auswanderer aus Bulgarien waren, wovon
die Hälfte das Gebiet von Edirne bewohnten.[11]
Die
Verteilung der Pomaken in angrenzenden Staaten rief kontroverse
Erklärungen über ihre vermutliche ethnische Herkunft hervor, die
wiederum auf die eigenen Identitätsvorstellungen reflektierten.
In Bulgarien werden die Pomaken z. B. als ethnische Bulgaren (Bulgarmohammedaner)
betrachtet, die den Islam während der osmanischen Periode
übernahmen, was die Gemeinschaft der Sprache und traditioneller
Volkskultur, sowie die aus den osmanischen Quellen gewonnene
Information, bezeugt. In der türkischen Literatur werden sie als
autochthone
Rhodopen-
oder
Gebirgstürken
qualifiziert, die Nachfolger der Kumanen aus dem 12. Jh. oder
Nachfahren anderer Turkstämme sein sollten, welche noch vor dem
Erscheinen der Osmanen die Rhodopen besiedelten, wo sie
bulgarisiert wurden und ihre Muttersprache vergaßen.
Nationalistische Propagandaschriften setzten ihre Anzahl auf
fast „6 Millionen Rhodopentürken“,[12]
was den höchsten
Vermutungen von der zahlenmäßigen Stärke der türkischen
Bevölkerung in diesem Lande widerspricht. In Griechenland
dagegen sind die Pomaken als „slawophone
islamisierte Hellenen“
oder als Nachfahren der alten Thraken und damit als griechische
„Verwandten“ gehalten worden, welche die bulgarische Invasion im
7.-12. Jh. nach den Rhodopen verdrängte, wo sie slawisiert und
mit dem Eintreten der Osmanen islamisiert wurden. Bluttesten
sollten außerdem „beweisen“, daß die Pomaken eine besondere
Rasse von
Thraken Achrianen
sind, also uralte Bewohnern des breiten hellenistischen Raums,
die mit den übrigen Völkern des Balkans, außerhalb natürlich mit
den Griechen, gar nichts gemeinsames haben. Und wenn früher die
Pomaken im Griechenland als einen untrennbaren Teil der
muslimischen Bevölkerung zusammen mit den Türken in Ost-Thrakien
behandelt wurden, versuchte man sie in den 90er
Jahren des 20. Jahrhunderts als ein separates Volk abzusondern,
um sie von den Einflüssen sowohl der Türkei als auch Bulgariens
fernzuhalten. In Albanien zählt man die Pomaken zur
makedonischen Minderheit; in Mazedonien selbst werden
sie als einen Teil der sprachlichen Mehrheit akzeptiert, obwohl
sie sich eher den von Albanern dominierten muslimischen
Minderheit anschließen und nicht selten darin auch assimilieren
lassen.[13]
Es gibt
keine Indizien für besondere Theorien über die Herkunft der
sogenannten
Torbeschi
(die „makedonischen
Muslime“) außerhalb der allgemeinen Vorstellungen von der
Genesis des mazedonischen Volkes. Auf diese Weise versucht jede
Nation die Pomaken an sich zu ziehen, woraus sich ein
Streitproblem herausbildet. Deswegen fühlen sich die Pomaken
selbst unsicher und sind beim Aufbau ihres Identitätsbildes
fremden Einflüssen leicht zugänglich. Unter arabischer
Suggestion entstand am Ausgang des 20. Jahrhunderts eine These,
die alle bisherige Herkunftsinterpretationen in den Schatten
stellte. Danach stammen die Pomaken von Gesandten (Peygambere)
des Propheten selbst, die nach seinem Befehle noch vor der
Niederlassung der Slawen und Türken auf dem Balkan kamen, um die
Worte Allahs zu verbreiten. Somit mischte sich im Streit ein
neuer „Spieler“ ein, der die Pomaken aus Arabern oder gar
Pakistanis herleiten will. Diese Mythologeme hält keine
ernsthafte Kritik stand. Sie verdient aber trotzdem eine
ernsthafte Aufmerksamkeit, weil sie „die Grenzen des Islams in
Europa so ‘zeichnet’, wie sie angeblich vom Propheten selbst
vorausbestimmt wurden“[14].
Und im
Kontext der Erwägungen S. Huntingtons von den Frontlinien des
„kulturellen Zusammenpralls“ darf sie nicht unberücksichtigt
bleiben.
Somit komme ich zum
Schliß. Die hier angesprochenen Identitätsprobleme sind
vorwiegend im ethnischen Bereich zu spüren, weil die
Volkszugehörigkeit und die Sprache weiterhin eine bestimmende
Rolle bei der Identitätsbildung haben und daher oft unter einem
Manipulationszwang stehen. Dies erklärt den Wunsch mancher
Pomaken, das Türkische als ihre Muttersprache anzugeben, ohne
sie überhaupt zu beherrschen, das Streben muslimischer Roma,
sich in die türkische Minderheit einzuschließen, das
Assimilieren makedonischer Muslime in der größeren albanischen
Volksgruppe usw., aber auch die Abgrenzungstendenzen unter den
Bosniaken, die im Rahmen des laufenden Nationsbildungsprozesses
ihre Sprache und Herkunft neu zu definieren haben.
[1]
Vgl. S.
Balić.
Bosniens
verkannte Identität im Spiegel des eigenen nationalen
Schicksals. - In: Ethnos-Nation, 1 (1993), H. 2,
S. 7-13 (s. auf S. 7) sowie andere seiner Arbeiten.
[2]
Siehe:
A.
Željazkova.
Razprostranenie na isljama v Zapadnobalkanskite zemi pod
osmanska vlast, XV-XVIII v.
[Die Verbreitung des Islams in den
westlichen Balkanländern unter osmanischer Herrschaft,
15-18. Jh.].
Sofia, 1990;
A. Željazkova.
Turci
[Türken].
- In: Obštnosti i
identičnosti v Bălgarija
[Gemeinschaften und
Identitäten in Bulgarien].
Hrsg. A. Krăsteva.
Sofia, 1998, S. 371-397 (siehe
auf die S. 375).
[3]
E. Radušev.
Demografski i etnoreligiozni procesi v Zapadnite
Rodopi prez XV-XVIII v. (Opit za preoreosmisljane na
ustojčivi
istoriografski modeli)
[Demographische und
ethnoreligiöse Prozesse in den westlichen Rhodopen
während des 15.-18. Jhs. (Ein Versuch eines Überdenken
standhafter historiographischen Modele)].
-
Istoričesko
bădešte,
1998, N° 1, 46-89.
[4]
A.
Željazkova.
Turci, 375-376.
[6] S.
Antonov, I. Miglev. Tatari
[Tataren].
- In:
Obštnosti i identičnosti
v Bălgarija, S.
356-370.
[7] Vgl. E.
Boev. Nekotorye osobenosti tatarskogo govora v
gorode Varna [Einige
Besonderheiten der türkischen Mundart in der Stadt von
Varna]. - LB, 1964,
N° 8, 69-86; E. Boev. Izsledvanija i materiali po
tatarska dialektologija v Bălgarija
[Untersuchungen und
Materialien über eine tatarische Dialektologie in
Bulgarien]. - GSU FZF,
Bd. 64-2, 1971, 77-186.
[8]
S.
Antonov. Etničeski
vzaimootnošenija meždu
bălgarite i tatarite
v Dobrudža prez
30-te godini na XX v.
[Ethnische Wechselwirkungen zwischen den Bulgaren und
Tataren in Dobrudscha in den 30-er Jahre des 20. Jh.].
- In:
Bălgarite
v Severnoto Pričernomorie.
Izsledvanija i materiali.
T. 4
[Die Bulgaren im Nördlichen
Schwarzenmeergebiet. Untersuchungen und Materialien. Bd.
4]. Veliko Tărnovo,
1995, S. 303-308; S. Antonov, I. Miglev. Tatari,
358.
[9] Weitere
Einzelheiten bei: S. Antonov, I. Miglev. Tatari,
360-369, sowie in den von Stojan Antonov vorbereiteten
Dissertation „Die Tataren in Bulgarien (Eine
ethnologische Untersuchung)“.
[10]
In der
Türkei wird die Anzahl der bulgarischen Pomaken als viel
höher zwischen 250 bis 500 Tausend Menschen
eingeschätzt.
Vgl. B. N.
Şimşir.
Migration from Bulgaria to
Turkey. 1950-1951 Exodus. - Foreign Policy
(Ankara), 12, 3-4, 1986, p. 93.
[11]
Siehe bei: E. Franz. The
Exodus of Turks from Bulgaria, 1989. - Asian and
African Studies (Jerusalem), 25, 1, 1991, 81-97
(s. auf S. 87).
[12]
So in einer
alten Broschüre - „Die Stimme der Rhodopener“ (Istanbul,
1973), die nach einiger Presseberichte massenhaft von
Aktivisten der BRF in den Rhodopen verbreitet wurde.
Vgl. "Kserokopija četat
po novomu istorijata. Ahmed Dogan inspektira tajno
aktivistite si v Čeča"
[Xerokopien lesen die
Geschichte auf eine neue Weise. Ahmed Dogan inspektiert
heimlich seine Aktivisten im Tschetcha].
- Trud, N° 33 (14218) vom 09.02.1994, S. 3.
[13]
M. Apostolov.
Religious Minority in Balkans. -
Nationalities Papers (New York), V, 25, 1998,
727-742.
[14]
C.
Georgieva. Săžitelstvoto
kato sistema văv
vsekidnevnija život
na hristijanite i mjusjulmanite v Bălgarija
[Das Zusammenleben als ein
System im alltäglichen Leben von Christen und Moslems in
Bulgarien]. - In:
Vrăzki
na săvmestimost i
nesăvmestimost meždu
hristijani i mjusjulmani v Bălgarija
[Beziehungen von
Kompatibilität und Unkompatibilität zwischen Christen
und Moslems in Bulgarien].
Sofia, 1994, S. 140-158 (s. auf S. 154).
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