1. Ein bißchen
Geschichte
Bulgarien
kehrte
auf die
politische
Karte in einer Zeit zurück, als in Europa schon
längst ein
Prozeß der
Ethnisierung des
nationalen Begriffes
lieft,
zu deren Hauptmerkmale
(Gemeinschaft
der Sprache
oder der
religiösen Zugehörigkeit)
einige viel
leicht zu interpretierende
und
auch zu manipulierende
Merkzeichen für die Bestimmung der Identität, wie z. B. die
Kultur im breitesten
Sinne des Wortes, die kollektive historische Erfahrung, das
eigene Selbstbewußtsein, die vermutliche ethnische Herkunft usw.,
zugefügt wurden.
Gerade deshalb wurde
Bulgarien – wie alle andere postosmanische
Nachfolgerstaaten
– als einen
Staat einer
ethnisch
definierten
Titularnation verstanden, auf deren Territorium jedoch größere
oder kleinere andersstämmige und andersgläubige Bevölkerungsteile
als Relikte der ethnokonfessionellen Buntheit im Region während
der imperialen Herrschaft lebten.
Und wieder wie in den übrigen (und
nicht nur
balkanischen) Ländern bestimmte
die Vorstellung von der Nation als eine ethnisch bedingte Form
der sozialpolitischen und kulturellen Gemeinschaft die
Einstellung der regierenden Eliten zu den einzelnen
Minderheitengruppen sowie die Spezifika der ihnen gegenüber
getriebenen Staatspolitik.
Trotz mancher Nuancen
wurde
diese Politik
in der Kombination zwischen drei möglichen
Optionen eingeschränkt:
(1) in der „Abgrenzung“ oder Segregation der Minderheit
nicht selten mit Hilfe ihrer
frei-
oder unwilligen Unterstützung; (2) in der „Befreiung“ von
der Minderheit meistens durch Auswanderungen, aber auch durch
einige weit brutale Formen der „ethnischen Säuberung“; und (3)
in der „Einbeziehung“ oder Integration der Minderheit,
verstanden aber als eine „Integration in“ und nicht als
eine
„Integration mit“ der
Titularnation, woher die Einbeziehung auf die Kosten der sich
integrierenden Gruppe erfolgte,
die sehr
oft Elemente ihrer
ethnokulturellen
Besonderheit
verlor.
Diese drei Vorgänge
sind in der Geschichte aller südosteuropäischen Staaten zu
finden. Die Maßnahmen, die jede davon zur Lösung eines
ethnonationalen Problems
ergreift, besonders wenn sie mit Unterdrückungen,
mit
„ethnischer
Transformationen“
oder mit
Auflösen einer
Gemeinschaft in der Titularnation verbunden sind, rufen
entsprechende Reaktionen in den Nachbarn hervor, was beim
Betrachten der minderheitlichen Problematik
in der
Region berücksichtigt werden muß.
Etwa nur 70% der
Bevölkerung des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
entstandenen neuen bulgarischen Staates waren ethnische
christliche Bulgaren. Die übrigen 30% umfaßten verschiedene
Minderheiten, die Mehrheit davon Muslime, worunter nur die
Türken ungefähr 24% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Nach einer
über ein Jahrhundert lang währenden Entwicklung erreichten die
Bulgaren Ende 1992 die 85,67% der Bevölkerung, während die
Türken auf 9,42%, die Roma auf 3,69%, die Armenier auf 0,16% usw.
zurückwichen. Diese Angaben sind als relativ zu betrachten.
Vermutlich war die wirkliche Anzahl der ethnischen Türken
zur Zeit des Zensus nicht 800 052, sondern ungefähr
674 000 Menschen, an denen sich die als „Türken“
angegebenen Roma und Bulgarmuslime angeschlossen wurden. Es
scheint mir auch die Anzahl der 313 376 Zigeuner
als inkorrekt zu sein. Offensichtlich wurden die sich schon in
den türkischen und bulgarischen ethnischen Gruppen integrierten
Roma davon ausgeschlossen. Noch im Jahre 1989 wurden nach
inoffiziellen Angaben des Ministerium des Inneren etwa 577
000 Menschen (6,45% der Gesamtbevölkerung) von ihren
Nachbarn als „Zigeuner“ betrachtet und vielleicht sollte man
denjenigen Forschern Recht geben, die nach ähnlichen Kriterien
Mitte der 90er Jahre von ungefähr 700–800
000 Roma in Bulgarien sprechen. Natürlich erhöhen einige
Roma-Vertreter die Anzahl der heutigen Zigeuner in Bulgarien auf
über 1 Million Menschen, ähnlich wie man in den
nationalistischen Kreisen der Republik Türkei mit 3 Millionen
bulgarischen Türken (inklusive die Pomaken und die
türkischsprachigen Roma) rechnet. Für manche der anderen
traditionellen ethnischen Gruppen im Lande werden auch die vom
Zensus abweichenden Zahlenangaben vermutet.
Das Anwachsen der
Anzahl der ethnischen Bulgaren gegenüber den anderen Bewohner
des Landes verdankt man einer Reihe von Faktoren. Einerseits ist
dies auf ihren höheren natürlichen Zuwachs am Ausgang des 19.
und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, sowie auf die
Übersiedlung von über einem Viertel Million Bulgaren aus
Thrazien und Makedonien
nach dem Ersten Weltkrieg (anderer Angaben zufolge sollten
annähernd 305 000 Bulgaren während der 20er
Jahre des 20.
Jahrhunderts
für das Ansiedeln von etwa einem halben Million griechischen
Flüchtlingen aus Kleinasien Platz einräumen). Andererseits aber
wird die Senkung der Minderheitenanzahl von 1/3 auf etwa 1/7 der
Gesamtbevölkerung auch als Ergebnis der ihnen gegenüber
getriebenen Politik zu betrachten,
die
die Auswanderungen einzelner Gruppen unterstützte oder
beförderte, beziehungsweise auf die Integration mancher
Minderheitenteile in
die
bulgarischen Titularnation einwirkte.
So wurde z. B. mit der
Zeit die griechische Minderheit, die
einst
in Ostrumelien die
dritte Position (5,2% der Gesamtbevölkerung) einnahm, drastisch
reduziert. Etwa 20 000 Griechen siedelten noch
1906-1910 aus Bulgarien aus. Neue 50 000 Menschen,
wenn nicht auch
viel mehr,
folgten 1919-1925. Und obwohl der
griechische Bürgerkrieg über 4000 Emigranten 1948-1952 nach
Bulgarien vertrieb, geben heute nur etwa 8000 bulgarische Bürger
das Griechische als ihre Muttersprache an. Auch die Anzahl der
Juden, die 1934 auf 48 565 Menschen belief (die
Hälfte davon in Sofia), wurde allmählich herabgesetzt. Nach der
Gründung des Staates Israel am 15.
Mai 1948
wanderten innerhalb eines Jahrs 32 106 Menschen nach
ihrer neuen Heimat aus, so daß am Ende 1951 in Bulgarien nur
7676 Juden verblieben. Der Sturz des kommunistischen Regimes
1989 eröffnete neue Möglichkeiten und bis zum Jahr 1992
emigrierten weitere 2400 Menschen nach Israel. Auf diese Weise
wurden die Juden, die einst viel zahlreicher als die Armenier
waren, Ende 1992 auf 3461
(und im Jahr 2001 auf
1363) Menschen
reduziert und mit ihren 0,04%
(0,02%)
der Gesamtbevölkerung
blieben sie
weit hinter den
Russen, Armenier, den neu erschienenen Arabern, hinter Wallachen,
Karakatschanen, Griechen und Tataren.
Umgekehrt läßt
sich die steigende Anzahl der armenischen Bevölkerung
nicht zuletzt auch mit der Annahme im Lande von armenischen
Flüchtlingen aus der Türkei (ungefähr 20 000 Menschen
im Jahr 1896; über 22 000 Menschen im Jahr 1922)
erklären, weswegen trotz der Auswanderung von je 5000 Menschen
nach Sowjetarmenien 1935 und 1946, sowie von weiteren
5000 Menschen in die USA 1965-1968, reihte
sich die armenische ethnische Gruppe im Jahre 1992 mit ihren
0,16% oder 13 677 Menschen auf den vierten Platz
unter den ethnischen Gemeinschaften Bulgariens ein.
Gewiß mußte sie 2001 diese Stelle zugunsten der russischen
Volksgruppe abtreten, doch mit ihrer 10832 Angehörige (0,14%)
steht sie nach wie vor zahlenmäßig vor vielen traditionellen
Minderheiten im Lande, wie die der Wallachen, der Griechen, der
Rumänen, der Juden usw.
Das Reduzieren des Prozentanteils der türkischen
Bevölkerung im Lande, unabhängig von ihrem relativ höheren
natürlichen Zuwachs, erfolgt auch im Laufe der ständigen
Auswanderungen, wobei bis zu Beginn der 80er Jahre
des 20. Jhs.
in
verschiedenen Zeiten über 700 000 Menschen in die
Türkei emigrierten. Zu denen schlossen sich 1989 neue 214
902 Menschen, sowie weitere 140 000 Türken, die
Bulgarien am Anfang der Transformationsperiode bis zum Jahr 1993
verließen.
Die Integration –
manchmal als ein natürlicher Prozeß, der auch von der
Minoritäten selbst unterstützt, viel öfter aber unter dem Druck
der Umständen und dem Einfluß der Staatspolitik realisiert wird
– führte
auch zur Erhöhung der Gesamtanzahl der Bulgaren in den
offiziellen Statistiken. Eine große Rolle
dabei
spielten
im ersten Falle
die gemischten Ehen: etwa 80-90% der bulgarischen Juden nach dem
Jahr 1949 z. B. heirateten eine(n) nicht jüdische(n) Partner(in)
oder stammten von solchen Mischehen. Damit erklärt sich auch die
Tatsache, daß unabhängig von der geringen Anzahl der sich 1992
(und 2001)
als Juden
angegebenen 3461
(1363)
Menschen, heute etwa
10 000 bulgarische Bürger das Recht besitzen, eine
israelische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Ähnlich ist die
Lage auch bei der Romabevölkerung, wovon annähernd 1/6 die
Merkmale einer bulgarischen Selbstidentifizierung aufweist. Sich
auf die vermutliche Gesamtanzahl der Zigeuner im Lande bezogen,
könnte dies zu Spekulationen führen, daß vielleicht über 130
000 Bulgaren (annähernd 2% der Titularnation) im Jahr 1992
eine „zigeunerische
Herkunft“
haben sollten.
Beim ethnischen
Determinieren der Vorstellungen
von der Nation
scheint es ganz
verständling
das Bestreben der Balkaneliten, manipulativ auf das Entstehen
eines ihnen recht erscheinenden ethnischen [Selbst]Bewußtseins
unter den nach irgendeiner Merkmal verwandten minderheitlichen
Gemeinschaften in den benachbarten Ländern, bzw. unter den sich
konfessionell
und/oder
ethnisch unterscheidenden Bevölkerungsgruppen im eigenen Lande,
einzuwirken. Dies stellt die einzelnen Balkannationalismen
gegeneinander auf und verursacht eine Reaktion
zur
Bewahrung der „nationalen Interessen“. Vielleicht sollten wir
darin die Vorursache für
die
Bedrückung der
Minderheitenrechte in
dem
Nationalstaat des 20.
Jahrhunderts,
sowie die zwangsweise erfolgte „Integration“ erkennen, die
schließlich auf die „Auflösung“ der Minderheit in der
Staatsnation gerichtet wird, besonders falls sich die Mehrheit
aus
irgendeinem Grund
davon bedroht fühlt. Als die Wallachen im Bulgarien z. B. nach
dem Jahr 1910 unter dem Einfluß der rumänischen Politik
offiziell als „Rumänen“ erkannt wurden, haben die bulgarischen
Behörden entsprechende Maßnahmen getroffen, wobei in der
Zwischenkriegszeit den Druck gegenüber dieser Bevölkerung
verstärkt wurde.
Sie
äußerten
sich in dem
Verbot, die Muttersprache öffentlich zu benutzen, die
traditionelle wallachische Tracht zu tragen, volkstümliche
Bräuche einzuhalten, sowie in Einschränkungen
des Gottesdienstes auf Rumänisch, in der Aufstellung von
Hindernisse vor der Verbreitung rumänischer Literatur und
überhaupt vor den Privatkontakten mit Rumänien, in dem
Aufzwingen der Wallachen, ihren Familiennamen zu bulgarisieren
und den Kindern bulgarische Namen zu geben, in dem
obligatorischen Besuch von Kursen für das Erlernen des
Bulgarischen und in anderen Maßnahmen, die nicht selten von
solchen
Repressalien, wie
Mißhandlung, Verhaftung und Aussiedlung, begleitet wurden. Einen
halben Jahrhundert später wurde dasselbe System in bezug auf die
bulgarischen Türken im Laufe des sogenannten
“Prozesses
der Wiedergeburt”
verwendet.
Nach dem Jahr 1940
wurden auch die
Roma
einem starken Druck unterzogen. Außer daß
es
ihnen verboten wurde,
die Zentralgebiete der Hauptstadt und der größeren Städte
Bulgariens zu besuchen, sowie den öffentlichen
Stadtverkehr zu
benutzen, wurde 1942 ein Teil
der Zigeuner
gewaltsam
evangelisiert,
wobei ihre
muslimische
Namen in Sofia und in anderen
großen
Ortschaften mit
christlichen Namen ersetzt wurden. Dies fiel zeitlich mit den
sogenannten
„Maßnahmen der
Wiedergeburt“ gegenüber den muslimischen Bulgaren zusammen (also
mit der laufenden Namensänderung, mit der Einführung
des islamischen
Gottesdienstes auf
Bulgarisch, mit
Abschaffen von
Elementen der traditionellen Bekleidung usw.), was ein
merkliches
Zeugnis für das
gezielte Bestreben der Staatsorgane, einige Probleme der
Minderheitenfrage mit Hilfe der forcierten Integration zu lösen,
darstellt.
Die Versuche,
andersstämmige und andersgläubige Gemeinschaften teilweise zu
assimilieren, teilweise zu unterdrücken, oder aber
sie
zur Auswanderung zu
veranlassen, schreiben sich in
dem
gewöhnlichen Streben nach dem Aufbau
“mononationaler
Staaten”
ein. Diese
Prozesse verliefen
allerdings
auch in den übrigen Ländern Südosteuropas
(und sogar weit hinaus).
Die ethnisch bedingte Vorstellung von der Nation, die ihre
Vitalität bis in die Gegenwart aufbewahrt, stimuliert die
weiteren Versuche, neue Identitäten im Namen der einen oder
der
anderen „nationalen
Interesse“ zu konstruieren. Darin müssen wir z. B. die Ursachen
für die künstliche Erschaffung
in Griechenland einer
„pomakischen Nation“, sowie für die
in Serbien
unterstützten
Idee von dem Vorhandensein einer Nation
von
Schopi
suchen, die
sich auf das
1919
an Serbien
abgetretenen
westlichen
bulgarischen
Randgebieten und
östlich bis in die
Umgebungen
von Sofia hin erstreckt.
In beiden Fällen
handelt es sich allerdings um bulgarische ethnographische
Gruppen, Teile wovon auf den eigenen Siedlungsgebieten doch
schon längst außerhalb der bulgarischen Staatsgrenzen leben.
Solche Einstellungen
zum Wesen der Nation und zur Lösung der
Probleme mit einer
oder mit anderer Minderheit
erscheinen heute als
einen
Anachronismus,
besonders wenn
sie im Kontext des globalen Integrationsprozesses
gestellt und
betrachtet
werden.
Vielleicht sollte aber die Menschheit auch die Last der
ethnonationalen Konflikte ertragen, um neue Formen der
friedlichen Koexistenz zu entdecken. Seinen „Beitrag“ zu dieser
schmerzhaften Erfahrung leistete auch das moderne Bulgarien.
Als der Staat im
Laufbahn der Sowjetunion gestoßen wurde, mußte er sich an der
ideologischen Doktrin
der
UdSSR anpassen.
So wurde die
Einstellung zu den Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg
wieder mal der
Laune der „großen Politik“ unterstellt, dessen
Faden nun zu Moskau führte. Dies erklärt die
anfänglige
Verbesserung der Minderheitenrechte am Ausgang der 40er
und in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als die
muslimischen Namen der Pomaken zurückgegeben wurden, die
Emigration von Juden und Armenier erlaubt wurde, aber auch die
„Makedonisierung“
der bulgarischen Bevölkerung im Gebiet von Pirin auf Anordnung
der Staatsgewalt erfolgte. In dieser Zeit bemühte man sich, das
Leben und die Qualifikation der Roma zu verbessern, es wurde
auch das Kultur- und Bildungswesen der bulgarischen Türken
gefördert, doch begleitet von der Auswanderung 1950-1951 von
über 154 000 Menschen in die Republik Türkei. Die
allmähliche Sowjetisierung der Gesellschaft mit der Abschaffung
des Privateigentums, einer Verstaatlichung der Industrie- und
Landwirtschaft, einer Ideologisierung der Politik,
einschließlich mit verstärktem
antireligiösen Druck, war keine gegen die Minderheiten
gerichtete Diskrimination, weil die Maßnahmen
in
gleicher
Masse die
ganze
bulgarische
Nation betrafen.
Es sollen auch die Beschlüsse, womit in den 50er
Jahre die Landstreicherei und Bettelei unter den
Zigeunern
verboten wurden, nicht als diskriminierend beurteilen. Gewiß
haben sie die Lebensweise und Lebensunterhalt eines Teils der
Roma
stark betroffen, doch
wurde mit der Regelung der Niederlassung, Ausbildung und der
Beschäftigung der bulgarischen Roma auch Mittel für das Aufbau
neuer Häuser und Schulen zur Verfügung gestellt, sowie
Arbeitsplätze für Zigeuner geschaffen, was zur Reduzierung ihrer
Arbeitslosigkeit und zur allgemeinen Verbesserung ihrer
Lebensbedingungen führte.
Im Laufe der neuen
Einstellung zur Minderheitenfrage wurden nach den
Jahren
1956-1958
die Zigeuner
unter dem
Druck gestellt,
bulgarisches
ethnisches
Selbstbewußtsein zu entwickeln. Ähnlich wie die muslimischen
Bulgaren und später
wie
die Türken wurden
die Roma
bei der Namenswahl
auf traditionelle bulgarische Namen eingeschränkt.
In
dieser Politik
einer sich
ausbreitenden
Assimilierung,
trotz ihrer
rein
bulgarischen Nuancen (da
Elemente davon
schon
in der
vorkommunistischen Zeit zurückzuverfolgen
sind)
findet man
Motive, die mit den eingebrachten sowjetischen Ideologemen,
z. B.
von der „einheitlichen sozialistischen Nation“ oder von der
Abschaffung der
nationalen
Unterschiede bei
dem „Übergang
zum Kommunismus“, verbunden sind.
Das, was in der
Öffentlichkeit als einen „Prozeß der Wiedergeburt“ bezeichnet
wurde, stellte eigentlich die letzte Phase einer Jahrzehnte lang
durchgeführte Politik zur Bildung einer ethnisch homogenen
bulgarischen Nation dar.
Dabei wurde natürlich
die größte „Aufmerksamkeit“ der
muslimischen Gemeinschaft gewidmet,
da
sie ethnokonfessionell
mit der Bevölkerung der Republik Türkei, mit dem Hauptgegner
Bulgariens im Rahmen der „bipolaren Welt“, verbunden war, und
außerdem das
am schwierigsten integrierbare und sich von
dem Titularvolk
am zahlreichsten abweichende
Teil
der „bulgarischen sozialistischen Nation“ bildete. Die übrigen,
meist
„städtischen“,
Minderheiten, wie etwa
die Juden,
die
Armenier und
die
Griechen, waren
entweder schon seit langem im gesellschaftlichen und politischen
Leben des
Landes gut
integriert, oder stellten wegen ihrer belanglosen Anzahl keine
Gefahr für die „nationale Sicherheit“ dar.
2. Einiges über die
muslimischen Minderheiten
Am Ende des
20.
Jahrhunderts konnten
die bulgarischen
Muslime
schwerlich als ein einheitliches Ganzes betrachtet werden. Die
Ergebnisse der Volkszählung
vom
Dezember 1992 zeigten, daß
sich
13,05% der
Staatsbürger zum Islam bekennten.
Der überwiegende Teil davon
waren
orthodoxe Sunniten aus der hanefitischen Richtung (12,05%
der ganzen Bevölkerung, oder 92,56% der
Muslime
im Lande). Sie
waren Träger
des traditionellen türkischen Islams, der im Osmanischen Reich
gepflegt und weiterentwickelt wurde. Eine sehr kleine Anzahl von
Gläubigen waren
Schiiten
(0,98% der ganzen Bevölkerung, oder 7,44% aller
Muslime).
Das sind die sogenannten
Kızılbaši
oder Aleviten,
Aliane – Anhänger Ali’s, der Schwager Mohammeds, der von
seinen Verehrern für Nachfolger des Propheten gehalten wird. Die
Schiiten in Bulgarien könnte man als
ein
Produkt der Tätigkeit
nicht orthodoxer islamischen Sekten
unter den
Einheimischen
oder als Ergebnis von Umsiedlungen der Bevölkerungsgruppen,
so etwa
aus
dem
kurdischen Anatolien
und aus
anderen Gebieten des
Reiches, besonders im Zusammenhang mit den osmanisch-iranischen
Kriegen, betrachtet werden. Sie führen ein relativ geschlossenes
Religionsleben und grenzen sich durch einige Einzelheiten in
ihrer rituellen Praxis und Tradition von der übrigen
muslimischen Bevölkerung ab. In Bulgarien wurden bisher keine
Anhänger der Haridschiten registriert, also derjenigen
“Puritaner”
und Fundamentalisten, die für die arabische Welt
charakteristisch sind, welche zur Einhaltung der strengen
sittlichen Normen und zur Rückkehr zu den Wurzeln
eines
„reinen“ Islams auffordern.
Doch mit der Öffnung
des Landes sowohl nach Westen als auch nach Osten (was die
muslimischen Mitbürger anbetrifft) könnte man auch mit
Einflüssen des wahhabitischen Islams rechnen.
Nicht nur im
konfessionellen Bereich sondern auch nach ihrer ethnischen
Herkunft unterscheiden sich die bulgarischen
Muslime.
Wie man erwartet kann, ist die zahlreichste Gruppe darunter die
der türkischen Bevölkerung. Deshalb wird auch die Frage nach der
Lage der muslimischen Minderheit im Lande vor allem in
Verbindung mit den Rechten und Freiheiten der bulgarischen
Türken gestellt. Nach
dem Zensus vom Jahr
1992 war ihre
Anzahl etwa 800 Tausend Menschen – 800052 (9,42% der
Gesamtbevölkerung) nach der ethnischen Zugehörigkeit, oder
813539 (9,58%) nach ihrer Muttersprache
(für das Jahr 2001 sanken die entsprechenden Daten ein wenig:
746664 oder 9,42% Türken nach ethnischer Zugehörigkeit und
762516 oder 9,62% Türken nach ihrer Muttersprache).
Manche Autoren in
Bulgarien bestritten die Gültigkeit dieser Angaben. Sie behaupteten,
daß die „eigentlichen“ Türken im Jahr 1992 kaum die Grenze von
etwa 500 bis 600 Tausend Menschen überschritten, und der Rest
bis 800
Tausend
von den sich als „Türken“ angegebenen Roma und Pomaken „ausgefüllt“
wurde.
Sehr nah an die Türken
stehen in ethnolinguistischer Hinsicht die bulgarischen
Tataren. Noch im 13.-14. Jh. wurden
die
ersten
tatarischen
Niederlassungen in Bulgarien vermerkt,
u. zw. von
Militäreinheiten, die im Dienst der bulgarischen Zaren
wechselten. In osmanischer Zeit wurden bereits günstigere
Verhältnisse für ständige Ansiedlung von Tatarengruppen in der
Dobrudscha geschaffen, die
deshalb
die Bezeichnung „KleinTatarien“ in Analogie zur byzantinischen
„Klein Skythien“
(Skythia Minoris)
erhielt.
Besonders bedeutend
waren
die tatarischen Übersiedlungen nach der Eroberung des
Krim-Chanates durch Rußland (1783) und um den
osmanisch-rußischen Krimkrieg (1853-1856), als etwa 60 000
Krimtataren in der Dobrudscha, im Donauflachland und im Gebiet
von Vidin angesiedelt wurden. Ihre Nachkommen,
die
die eigene Identität
aufbewahrten, bildeten nun die gegenwärtige
Tatarengruppe
in Bulgarien,
zu der sich auch die sog.
Tatar Šengene
(tatarische
Zigeuner) im Gebiet von Russe
anschließt. Die
politische Turzisierung der Tataren
begann am
Ende der 20er
Jahre unter der Einwirkung der Ankaras Propaganda, so daß man im
Laufe der Zeit die Tataren inoffiziell als einen Teil der
türkischen Minderheit zu betrachten begann. Als „Türken“
emigrierten viele davon auch im Jahr 1989. Dies führte zu einer
beträchtlichen
Reduzierung ihrer Anzahl, so daß 1992
lediglich
4515 Tataren (0,05% der Gesamtbevölkerung) registriert wurden,
obwohl sie nach
der
eigenen Angaben auf etwa 20000 Menschen belaufen.
Die
Tataren sind
Muslime
sunnitischer Prägung; sie selbst empfinden sich aber in
religiöser Hinsicht als viel mäßiger als die Türken. Bei ihnen
fehlt es an
einer
Geschlechtsegregation – die tatarischen Frauen verschleierten
noch früher ihren Gesichter nicht und außerdem zeigen die
Tataren eine weit tolerante Einstellung gegenüber den Aleviten (Schiiten).
Sie unterscheiden sich auch durch andere Merkmale
von den Türken
darunter durch
manche
Kalenderfeste einschließlich der Newrūz (der
erste Frühling),
der mit dem persischen
(und auch kurdischen!)
Neujahr
zusammenfällt. Ihre Sprache trat jedoch zum Gunsten des
Türkischen zurück,
was viele
Probleme vor der Wiedergeburt der tatarischen Identität
bereitet.
Zahlreicher
als die Tataren sind die muslimischen Zigeuner. Einiger
türkischen Einschätzungen zufolge bilden sie fast 75% der
Romabevölkerung in Bulgarien, nach anderer Angaben sind sie nur
etwa 40% aller Roma. Beim
Zensus 1992
wurden als Zigeuner 313396 Menschen (3,69%) eingetragen, wovon
310425 Leute
(3,65%) das
Romani als
eigene
Muttersprache eingaben.
Etwa zehn Jahre später gab es 370908 Roma (4,68%) nach
ethnischer Zugehörigkeit und 327882 Roma (4,13%) nach ihrer
Muttersprache. Nach
inoffiziellen Einschätzungen schwankt
aber
die Anzahl der
Roma
zwischen 500 bis 800
Tausend
Menschen (vielleicht wurden darin die
bereits
bulgarisierten und turzisierten Vertreter dieser Gemeinschaft
mitgezählt). Heute sind die meisten davon Christen und dies
entspricht den Beobachtungen vieler Forscher, daß die Roma
gewöhnlich die Religion des Landes, in dem sie leben, als ihre
eigene “Glaube”
betrachten, und beim Wechsel der Heimat auch ihre Religion
wechseln. Diese ihre Spezifika zusammen mit der Politik des
bulgarischen Nationalstaates erklären das Sinken der Anzahl von
Muslime
unter der Roma-Bevölkerung.
Man nimmt an, daß
die
Zigeuner noch im
13.-14. Jh. auf dem Balkan
eindrangen.
Die überwiegende Anzahl von
Zigeuner,
die in den frühen osmanischen
Steuerbüchern
eingetragen wurden,
waren Christen mit slawischen Namen, was
darauf
andeutet, daß sie
bereits
im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung standen,
deren
Namenssystem
und Glauben
übernahmen. Zusammen mit den osmanischen Türken kamen aber auch
Zigeuner, die noch vor ihrem Erscheinen in Europa
zum
Islam konvertiert wurden. Im Laufe der Zeit trat der größte Teil
der Romabevölkerung zur herrschenden Religion über und ab
dem
18. Jh. waren die
Muslime
schon eine Mehrheit. Im Osmanischen Reich fanden die
Zigeuner
viel günstigere Lebensverhältnisse im Vergleich zu Mittel- und
Westeuropa, wo sie einen starken Assimilationsdruck und
Verfolgungen ausgesetzt wurden. Dies stimulierte den Anwachs
ihrer Anzahl einschließlich durch Einwanderungen in die
Balkanländer. Dort pflegten
die Roma
diejenigen spezifischen Tätigkeiten und Berufe zu praktizieren,
die für die vorindustrielle Gesellschaft
typisch
waren, heute aber nicht mehr gefragt sind, was vielleicht ein
zusätzlicher Faktor für
ihre
sozial-ökonomische Marginalisierung in der Gegenwart darstellt.
Die Romagemeinschaft
ist zu
heterogen. In Bulgarien bilden
die Zigeuner
zwei unterschiedliche konfessionelle Gruppen, nämlich 1)
muslimische
türkisch- oder tatarischsprechende
„türkische
Zigeuner“, die
sog. Horohane Roma
und 2)
christliche vorwiegend slawophone Zigeuner, die sog. Dasikane
Roma. Die
ostorthodoxe Roma, die
der Sprache nach
in bulgarischen,
in
rumänischen
oder wallachischen (z. B. kopanari u. a.)
und in einer kleinen
Anzahl von
serbischen
Zigeuner (die sog.
drastare
oder lovari)
eingeteilt werden,
unterscheiden sich nach professionellen Merkmalen in zusätzliche
Untergruppen
weiter. Aber auch die Gruppe der „türkischen“ Zigeuner ist sehr
heterogen. Darunter befinden sich: 1. Nachkommen von
Migranten aus muslimischen Staaten;
2.
Zigeuner, die auf bulgarischem Gebiet zum Islam konvertiert
wurden (etwa die sog. Ägypten – die älteste urkundlich
bewiesene Romabevölkerung im Lande); 3. Zigeuner, die den
Islam im Osmanischen Reich übernahmen und später nach Bulgarien
aus benachbarten christlichen Staaten übersiedelten (z. B. die
sog. Balamo horohane Roma ‘griechische türkische
Zigeuner’) und 4. die sog Mezhari (aus bulg.
meždu ‘zwischen’), die sich infolge der gemischten Ehen
zwischen horohane und dasikane Roma als eine
separate Gemeinschaft herausbildeten. Es gibt ferner Gruppen,
formiert (a) nach ihrer Lebensart (z. B. die
Kardaraschi im Sinne von ‘Nomaden’, die einen Teil der Ende
des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Rumänien nach Europa
ausgewanderten Zigeuner darstellen), oder (b) nach der
ethnischen Entfernung von der Hauptmasse (so die Gadzhikane
Roma, aus dem Wort gadzho - eine Bezeichnung für alle
Nicht-Roma, sowie die sog. Dzhorevci in Sofia, die
Nachkommen der gemischten Ehen von Bulgaren und Roma sind). Sie
alle, wie die längst ansässigen und vorwiegend (doch nicht
ausschließlich) muslimischen erlii (aus dem türk. yer
‘Ort’ > yerli ‘örtlich, hiesig’) gliedern sich nach dem
traditionllen Lebensunterhalt oder Gewerbe in weiteren
Untergruppen, so etwa in: kalajdžii ‘Kesselflicker’ <
kalaj ‘Zinn’ (die zu kardaraschi gehören, zwei
Unterteilungen der „ungarischen“ und „bulgarischen“ Roma bilden
und zur Gruppe der kalajdžii erlii antagonistisch
gestellt sind); mečkari oder ursari ‘Bärenführer’
< mečka, rum. urs ‘Bär’; majmundžii
‘Afenführer’ < majmuna ‘Affe’ u. a. (die zu gadzhikane
Roma zu ordnen sind); košničari ‘Korbmacher’ <
košnica ‘Korb’; nožari ‘Messerhersteller’ < nož
‘Messer’; čalgadžii ‘Musiker’ < türk. çalga
‘[orientalisch klingende] Musik’ usw.
Mit
Ausnahme der türkisch- und rumänischsprachigen
Zigeuner benutzen alle
andere Roma
verschiedene Dialekte der neuindischen Zigeunersprache (Romani
čub) oder eine Mischung
davon
mit bulgarischen, türkischen und rumänischen Wörtern.
Das ist der Grund warum
manche
Forscher die Zigeuner nicht als ein Volk betrachten, sondern für
sie den Begriff „ethnische Zwischengruppe“ verwenden. Laut einer
soziologischen Untersuchung, die
im Jahr
1994 unter den
Zigeuner durchgeführt wurde, erklärten nur zwei Drittel der
Respondenten ihre Zugehörigkeit zur Roma-Gemeinschaft. Davon
definierten sich selbst 47% als „bulgarische Zigeuner“, 46% als
„türkische Zigeuner“, 5% als „wallachische Zigeuner“ und
lediglich
1,6% als „Kardarasche“. Doch das Romani
war eine
Muttersprache für 85% der „Kardarasche“, 75% der „bulgarischen
Zigeuner“, 34% der „türkischen Zigeuner“ und 14% der „wallachischen
(oder rumänischen) Zigeuner“, wobei 61% aller „türkischen
Zigeuner“ sich untereinander nur auf Türkisch unterhielten. Das
ist ein Zeugnis
dafür,
wie groß den
Assimilationsgrad
eines großen
Teils der
Zigeuner mit
den Türken ist,
welche Beobachtung auch durch die Tatsache verstärkt wird, daß
sich unter den 310 Tausend Menschen, die 1992 das Romani als
ihre Muttersprache eingaben, 39,7% (d.h. mehr als die
eigentlichen horohane Roma) zum Islam bekannten.
Eine
Sondergruppe
der muslimischen Gemeinschaft sind die Bulgarenmoslems,
auch unter den Bezeichnungen Pomaken, Achrjane,
Torbesche usw. bekannt. Sie sind eine Gebiergsbevölkerung,
die nun
in fünf Balkanstaaten
(in Bulgarien, Griechenland, Makedonien,
Albanien und in der Türkei) lebt.
Im Unterschied
zu den
bosnischen Muslimen,
die eine serbischähnliche Sprache besitzen, ist die pomakische
Sprache eine bulgarische Mundart, die in sich zahlreiche
archaische
Sprachformen
bewahrt, welche mit denen, die aus den schriftlichen Denkmälern
der mittelalterlichen bulgarischen Literatur bekannt sind,
verglichen werden können. Es besteht darin eine spätere Schicht
von Turzismen (einschließlich Zahlwörter und
Verwandtschaftsnamen), Arabismen (religiöse Terminologie) und
Gräzismen, die aber auch für andere bulgarische Dialekte
typisch
sind also alte griechische Lehnwörter im Bulgarischen
darstellen oder
aber
als ein Produkt der
Kontakte mit der griechischsprachigen Umgebung zu betrachten
sind. Nach inoffiziellen Angaben ist die Anzahl der Pomaken 500
000 Menschen, wovon zwischen 80-120 Tausend in Albanien, fast 40
Tausend in Griechenland und Makedonien
und etwa 150-200 Tausend in Bulgarien leben. In der Türkei
selbst wurden 1965
etwa
20 000
Menschen mit einer pomakischen
Sprache
(Pomakça) registriert, die hauptsächlich Auswanderer aus
Bulgarien
darstellten,
wovon die Hälfte das Gebiet von Edirne bewohnten.
Die Verteilung dieser
Bevölkerung rief unterschiedliche Erklärungen über ihre
ethnische Herkunft in der Geschichtsschreibung der Balkannationen
hervor. In Bulgarien
sind die
Pomaken als
Bulgaren (Bulgarmohammedaner)
betrachtet, die den Islam während der
Osmanenzeit
übernahmen,
wofür die
Gemeinschaft
von
Sprache und traditioneller
Volkskultur, sowie die aus osmanischen Quellen gewonnenen
Informationen,
spricht.
In der türkischen Literatur werden
sie
als autochthone Rhodopen- oder Gebirgstürken
qualifiziert,
welche
Nachfolger der Kumanen oder Nachfahren anderer Türkstämme waren,
die
die Rhodopen-Gebierge
noch vor dem
Erscheinen der Osmanen besiedelten, wo sie bulgarisiert wurden
und ihre Muttersprache vergaßen.
Manchen Schriften
zufolge wird
ihre Gesamtanzahl auf 6 Millionen
„Rhodopentürken“
bestimmt, was
den höchsten
Vermutungen der
zahlenmäßigen
Stärke der
Muslime in
Bulgarien
übersteigt. In
Griechenland
dagegen sind
die Pomaken als slawophone islamisierte Hellenen
oder als Nachfahren der alten Thrazier und damit als griechische
Verwandten gehalten
worden,
welche
von der “bulgarischen
Invasion”
im 7.-12. Jh. in die Rhodopen hinausgestossen wurden und in der
Folgezeit slawisiert, mit dem Kommen der Osmanen auch
islamisiert, wurden. Dort
wurden
hämatologische
Untersuchungen durchgeführt, um zu „beweisen“, daß in
rassischer
Hinsicht die Pomaken eine besondere Volksgruppe von
Thrazier Achrjane
darstellen, also von uralten Bewohnern des breiten
hellenistischen Raums, die mit den übrigen Balkanvölkern,
außerhalb mit
den
Griechen, nichts gemeinsames haben. Und wenn
man
die Pomaken
früher
als einen Teil der muslimischen Bevölkerung zusammen mit den
Türken in Ost-Thrazien behandelte,
erkennt man nun
eine neue
Tendenz, sie
als ein separates Volk abzusondern. Mitte der 90-er Jahre
erschienen
eine pomakische Grammatik
mit
zwei Wörterbüchern
(Pomakisch-Griechisches und Griechisch-Pomakisches),
was
von der Öffentlichkeit als ein patriotisches Werk zur
Verteidigung der nationalen Interessen begrüßt wurde. In
Albanien zählt man die Pomaken zur makedonischen
Minderheit; in
der Makedonien
selbst werden sie als Teil der
slawophonen
Mehrheit akzeptiert,
obwohl sie sich an die muslimische Minderheit
nebst
den Albanern anschließen. Es gibt keine Indizien
auf irgendwelche
besondere makedonische
Theorien über die Herkunft dieser Bevölkerung außerhalb der
allgemeinen Vorstellungen von der Genesis des makedonischen
Volkes. Doch eben die scharfe Konfrontation darüber zwang
vielleicht manche Osteuropaforscher, die traditionell gewordene
Definition der Pomaken als „Muslime bulgarischer Zunge“ durch
eine mildere „Muslime südostslawischer Zunge“ zu ersetzen.
Auf diese Weise
versucht jedes Staatsvolk auf dem Balkan die Pomaken an sich zu
ziehen, woraus sich ein großes Streitproblem entwickeln könnte.
Deswegen fühlen sich die Bulgarenmoslems selbst unsicher und
sind bei der Suche nach ihrer Identität fremden Einflüssen
zugänglich. In den letzten Jahren erschien z. B. unter
arabischer Suggestion eine neue These, die alle bisherige
Erklärungen über die Herkunft dieser Bevölkerung verwarf. Danach
seien die
Pomaken entweder Nachfahren mittelalterlichen arabischen
Kriegsgefangenen, die zur byzantinischen Zeit angesiedelt
wurden, oder alte Einwanderer aus Pakistan, oder aber Nachkommen
von Gesandten (Peygambere)
des Propheten
gewesen, die
nach seinem Befehle noch vor der Niederlassung
der
Slawen und Türken
kamen, um
auf dem Balkan die
Worte Allahs zu verbreiten.
Damit erscheint ein
neuer Spieler in dieser Region, der sich in der kontroversen
Herkunftsfrage einmischt und die Identitätsspaltung vorantreibt.
Diese
Mythologeme
hält keine
wissenschaftliche Kritik stand.
Doch sie
verdient eine Aufmerksamkeit, weil sie die
Islamgrenzen
in Europa,
die
angeblich vom Propheten selbst vorausbestimmt wurden,
‘zeichnet’. Und
im Kontext der Erwägungen
S.
Huntingtons
über die
Frontlinien des
sog. ‘Clash of Civilizations’, auf dem Hintergrund der auch
konfessionell determinierten Konflikte im früheren Jugoslawien,
im Kaukasus und in Mittelasien, sowie in Anbetracht der
anwachsenden Anzahl der sich auch in Bulgarien niederlassenen
Araber (1992 gab es hier noch 5438 davon, heute sind sie etwa
über 20000 Menschen), sollen solche Entwicklungen mit großer
Wachsamkeit nachverfolgt werden.
3. Die Minderheiten
Bulgariens nach der Wende
Wenn es etwas
nennenswertes bei den mühsamen Transformationsprozess in
Bulgarien gibt, so ist das auf dem Gebiet der Minderheitenrechte
und -freiheiten zu suchen. Diese Feststellung mag provokativ
sein und skeptisch in bezug auf die allgemeine Entwicklung
klingen.
Doch weder die
wirtschaftliche Lage, noch der miserablen Zustand in der
Wissenschaft und Bildung, in der Kultur und vor allem im
sozialen Bereich geben uns einen Grund zum Optimismus. Und wenn
die
Experten darin einig
sind, daß Bulgarien
sogar
beim
ständigen Anstieg des Bruttosozialproduktes seinen Ausgangspunkt
vom Jahr
1989 nach Jahrzehnten wieder erreichen könnte, bedeutet dies,
die Art und Weise der Transformation auch als Genozid gegenüber
breiteren Schichten der Nation zu bezeichnen.
Einen Beweis dafür
sieht man in den stetigen negativen Bevölkerungszuwachs, in der
erhöhten Sterblichkeit, in
dem
verschlechterten Gesundheitswesen, in der wirtschaftlichen
Misere und
in den anwachsenden Auswanderungsdrang.
Etwa
eine Million Menschen verlor Bulgarien seit dem Ende der 80er
Jahre. Mit über
einer halben Million Bürger (mehr
als 6%)
reduzierte sich seine Bevölkerung zwischen den beiden letzten
Zensusjahren. Dabei ist die Anzahl der verlorenen ethnischen
Bulgaren und Christen weit höher (-2,1% bzw. -2,8%). Auch die
Türken verminderten sich, obwohl ihren Anteil an die
Gesamtbevölkerung mit +0,05%
(von 9,4% auf 9,45%)
leicht
angestieg. Bei
den Zigeunern ist dagegen einen Zuwachs zu vermerken, und zwar
von 3,7% im Jahr 1992 auf 4,67%
im Jahr 2001, d. h. ihren Anzahl ist mit +0,97%
angestiegen. Auch die anderen ethnischen Gruppen haben nun
höhere Werte: ihre
Stärke
ist 1,1% auf 1,97%
oder mit +0,87%
angestiegen. Das bedeutet, daß die ethnischen Minderheiten im
Lande innerhalb eines Jahrzehnts an Anzahl ihrer Angehörigen im
Vergleich zum
Staatsvolk leicht zugenommen haben. Bildeten im Jahr 1992 die
Bulgaren 85,7% der Gesamtbevölkerung, sind sie nun auf 83,9%
reduziert worden. Waren die übrigen Ethnien mit 14,3%
zu summieren, erhöhte sich 2001 ihren Anteil auf 16,1%
der Gesamtbevölkerung. Wie immer diese Entwicklung zu
interpretieren sein mag, einst ist es schon klar, nämlich: (1)
daß die Bulgaren viel schwieriger die Lasten der Transformation
empfinden und (2) daß nun die ethnischen Minderheiten in
einer weit besseren Lage als zuvor gestellt worden sind.
Was hat sich
eigentlich
nach dem Umbruch 1989 geändert? (1) Die langjährigen
Bemühungen, eine ethnisch homogene bulgarische Einheitsnation zu
schaffen, wurden aufgegeben. (2) Es begann eine
unweigerliche Wiederherstellung der entzogenen oder
eingeschränkten minderheitlichen Rechte und
Freiheiten,
besonders in bezug auf die muslimische Bevölkerung. Somit
entspannte sich die Lage im ethnokulturellen Bereich, was zur
Aufbewahrung des Friedens führte. (3) Bulgarien hat sich
verpflichtet, die internationalen Vereinbarungen im Bereich der
Menschenrechte und des Minderheitenschutzes zu beachten. Dies
war nicht immer leicht und stoß auf heftigen Widerstand in
bestimmten gesellschaftlichen Kreisen.
Doch die
verantwortlichen Instanzen fanden einen Ausweg, indem sie mit
formellen Begründungen die Streitfragen lösten. (4) Dies
alles begünstigte die Tätigkeit zahlreicher wiederhergestellten
oder nach dem Jahr 1990 entstandenen gesellschaftlichen und
kulturellen Minderheitenvereine, sowie die Arbeit
zahlreicher
NGO’s
und bulgarischen Filialen internationaler
Rechtsschutzorganisationen, die sich mit der Lage der
Minderheiten befaßten.
Auf diese Weise fand
in Bulgarien eine spürbare Renaissance der ethnischen und
konfessionellen Minderheiten statt, die sich nun gemäß der im
Rahmen der EU akzeptierten rechtlichen Grundlagen gestaltete.
Davon profitierten nicht nur einzelne Teilgruppen sondern die
ganze Nation, weil damit das Konfliktpotential der Minderheiten
als einen möglichen Störungsfaktor gemildert wurde. Sie alle
haben nun ihre eigene kulturelle Vereine, die zur Stärkung und
Entwicklung der ethnischen Identität beitragen, wobei die Türken
zum ersten Mal auch über eine stets im Parlament vertretenen
politischen Partei verfügen. Die Muttersprache wird in der
Schule wieder gelernt und bei der Ausübung der Religion gibt es
nun keine Einschränkungen. Das Miteinander
von
Muslimen und Christen in den gemischten Gebieten ist nicht
strapaziert, weil sich die schon bewahrte Form des
Zusammenlebens (das sog. Komschuluk ‘[gute]
Nachbarschaft’
< türk. komşu ‘Nachbar’)
wieder belebte und sich beiden
Gruppen bei dem Überwinden der
Schwierigkeiten des
Alltages, sogar
beim
Bau von Moscheen und Kirchen gegenseitig helfen. In ihrer
Mehrheit tragen nun die beiden Volksgruppen auf eine ähnliche
Weise die Last des Überganges; beide sind gleichermaßen von der
wirtschaftlichen Misere getroffen, nur daß die Türken die
Präferenzen des sog. „Mutterlandes“ nutzen, um sich auf die
Oberfläche zu halten, wogegen für die Bulgaren keine solche
Möglichkeiten bestehen. Auch die Eliten beider Gruppen sind nach
Mentalität und Lebensweise nicht voneinander zu trennen,
weswegen es für die Türken keine Probleme gibt, bei der weiteren
Entwicklung des Landes mitzuwirken, ohne die eigene Identität
aufzugeben.
Mit der Rückkehr zur
Demokratie und der Öffnung Bulgariens entstanden neue
Möglichkeiten vor den Vertretern der Minderheiten. Nicht nur
Türken können jetzt unbehindert in die Türkei reisen und
nutzen
diese Angelegenheit,
um sich wirtschaftlich zu helfen. Auch die Juden stützen sich
auf den Beistand ihrer international verknüpften Gemeinschaften
oder machen von dem Recht auf eine israelische
Staatsbürgerschaft Gebrauch. Viele Rentner mit einer jüdischen
Herkunft weilen monatelang im „gelobten Land“, wo sie sich auf
eine bessere soziale und medizinische Versorgung erfreuen, und
kehren im Sommer nach Bulgarien zurück, um ihre Angehörige zu
treffen. Die Armenier nutzen die Kontakte mit ihrer Diaspora in
den Vereinigten Staaten und
in
Europa, um den
Schwierigkeiten des Überganges ein bißchen leichter zu begegnen.
Die Muslime zogen
ihrerseits
die Aufmerksamkeit der
islamischen Welt
und ihre materielle
Unterstützung
auf sich an und mit den Zigeunern beschäftigen sich zahlreiche
NGO, die sich mit Rat und Tat, in Zusammenarbeit mit staatlichen
Institutionen, durch verschiedene Projekte für Verbesserung der
Lage bemühen. So begann man
zu Beginn des neuen
Jahrtausends in
einigen Stadtvierteln von Sofia und
in
anderen Großstädten
für die
dortigen Roma
Mehrfamilienhäuser zu bauen – Projekte,
die
zum größten Teil mit Mitteln aus der EU finanziert wurden.
In solchen
Fällen wurden
dabei
Arbeitskräfte der Roma herangezogen, die vorher die notwendige
Qualifikation im Wohnungsbau erhielten, um sich damit später auf
dem Arbeitsmarkt bewerben zu können. Aber auch
eine der
Änderungen
des Bildungsgesetzes, wonach ab 2002 eine obligatorische
Vorschulvorbereitung eingeführt
wurde,
um man den Kindern das Lesen und Schreiben (bzw. das
Bulgarischsprechen) vor dem Beginn der ersten Klasse
beizubringen, kommt vor allem den türkischen und
den
Roma-Kindern zugute.
So können sie mit einem
viel
besseren Start in der
Schule rechnen sowie
weit
größere Integrations- und Bildungschancen bekommen. In einem
Experiment unter muslimischen
Roma von zwei Stadtvierteln in Plovdiv wurden auf diese Weise
etwa 60% ihrer Kinder für die Schule vorbereitet. Die frei
verteilten Frühstücke, Bekleidung, Lehrmittel und andere Güter,
die kostenlose Teilnahme im Unterricht, das für die Roma-Kinder
speziell konzipierte Programm, nicht zuletzt aber auch das
Vorhandensein von
Lehrerinen
aus der Minderheit, zog die Aufmerksamkeit der sozial schwachen
und stets arbeitslosen Eltern, die darin eine Möglichkeit sahen,
ihre Kids von dem „Einfluß der Straße“ fernzuhalten.
Gerade dieses Beispiel
zeigt deutlich, wo allerdings die meisten Schwierigkeiten und
Probleme im Bereich der Minderheiten liegen. Es sind nicht die
Türken und auch nicht die Muslime, die sich als ein Hemmnis für
die moderne Entwicklung erweisen. Gewiß könnten
sie
bei manchen
Konstellationen zu einem mächtigen Moderator der Zukunft
Bulgariens werden. Bislang sind
aber
keine ausgeprägte nationalistische oder islamistische Tendenzen
unter ihnen zu vermerken, die uns einen ernsthaften Grund zu
Sorge bereiten
können. Ob es
auch weiter so bleibt, hängt
gewiß
von der allgemeinen
Regionalentwicklung
und der weltpolitischen Situation in den nächsten Jahrzehnten
ab.
Anders ist die Lage
mit der Romabevölkerung. Die Zigeuner haben sich in der Welt
zerstreut und
bildeten
verschiedene Gemeinden, die sich voneinander auch in bezug auf
den Glauben unterscheiden. Und obwohl sie sich an der Kultur und
Sprache des jeweiligen
„Gastlandes“
anpaßten, blieben sie stets am Rande der Gesellschaft, als eine
exotische Gruppe, die überall und nicht nur in Bulgarien
„traditional-mobil“ blieb, ein äußerst niedriges Bildungsniveau
besaß und „fast ausschließlich in Arbeitsverhältnissen mit
extrem niedrigem Sozialprestige“
(so St. Troebst)
stand. So sind
die Roma
weiterhin als die Parias der modernen Welt geblieben u.
zw. nicht zuletzt
auch
deshalb, weil man sich
um ihre Entwicklung wenig kümmerte. Das Versuch im
kommunistischen Bulgarien sie per Gesetz seßhaft zu machen wurde
in den 90er Jahren voreilig als
eine
Diskriminierung
kritisiert.
Doch mit
Regelung der Niederlassung, Ausbildung und Beschäftigung der
Zigeuner wurden auch Mittel für das Aufbau von Häusern und
Schulen, sowie für das Schaffen von Arbeitsplätze zur Verfügung
gestellt, was zu
einer
allgemeinen Verbesserung der sozialen Lage und des
Bildungsniveaus der Roma führte. Und obwohl Mitte der 60er
Jahre nur etwa 40,5% davon als erwerbstätig gemeldet
wurden,
verdienten sie
viel leichter und auf eine ehrliche Weise ihren Lebensunterhalt.
Waren 1956 immer noch 55,9% der Roma Analphabeten, sank bis 1992
der Anteil derjenigen, die des Lesens und Schreibens unkundig
waren, auf 8,7%, während der überwiegenden Mehrheit von 82,9%
schon wenigstens eine Unterstufe- oder Grundschulbildung besaß.
Nach
der Liberalisierung der ökonomischen Verhältnisse und mit dem
Übergang zu einer dezentralisierten Marktwirtschaft fanden sich
aber
in dem Staat immer
weniger Mittel für gezielte Unterstützung der Romabevölkerung.
Das Schließen staatlicher
Betriebe und nicht rentabler
Produktionen, in denen
die
Zigeuner engagiert
wurden, sowie das Auflösen der LPG ließ Tausende Roma ohne feste
Beschäftigung, die dann auf die spärliche Sozialhilfe angewiesen
wurden. Und da sie für den Unterhalt der kinderreichen
Zigeunerfamilien nicht reichte, blieb den Roma
nur
den Ausweg, sich in der „grauen Wirtschaft“ einzureihen und
sich
straffällig zu machen.
Die angestiegene Kriminalität unter ihnen ist daher nicht mit
irgendeiner speziell angeborenen Mißachtung des Gesetzes zu
erklären. Sie ist schließlich in der zu lange andauernden
„Umwandlung“ zu suchen, in der sich für die Zigeuner nichts tat
und die Zerstörung des alten Systems mit der Unfähigkeit oder
Unwilligkeit der Institutionen verbunden war, die Demokratie
auch durch Recht und Ordnung zu festigen. Kein Wunder dann, daß
die Marginalisierung der Romabevölkerung weiter vorangetrieben
wurde. In den fast
20
Jahren seit dem Umbruch stieg die Anzahl der Angehörige dieser
Minderheit an, die sich daran gewöhnten, durch Diebstahl,
Bettelei, Prostitution und Drogenhandel zu ernähren. In der Tat
ist die Kriminalität unter den
Roma
17 mal größer als bei den übrigen Volksgruppen geworden. Es
wächst also eine Generation, die schon keinen Halt vor schweren
Delikten macht und auch ein äußerst niedriges Bildungsniveau
besitzt. Und wenn man die große Geburtenrate der Roma in
Betracht zieht, zeichnen sich somit für die Zukunft des Landes
keine erfreuliche Perspektiven.
So kommen wir zu den
schwierigsten Problemen der Transformation,
die
auch die Lage der Minderheiten beeinflussen. Sie sind vor allem
in dem ständigen Pauperisieren der Gesellschaft zu suchen. Die
soziale Differenzierung
ist
unter allen ethnischen
Gruppen zu
beobachten und
die Kluft zwischen der verarmten Mehrheit und der kleinen
Schicht von
Wohlhabenden wird immer größer. Die sinkende Lebensqualität der
breiten Teile der Nation wird am schmerzhaftesten
aber
bei den Minderheiten
zu spüren. Hier hilft kaum das bloße Kopieren von woanders
erprobten Modellen und ihre formelle Einführung, ohne jedoch die
Lage konkreter
Bevölkerungsgruppen
tatsächlich aufzubessern. Die Einführung eines
Muttersprachenunterrichts für Roma-Kinder z. B. ist bestimmt als
einen guten Schritt für die Bewahrung und Entwicklung der
ethnischen Identität zu
bewerten.
Doch wo werden sie später von den erworbenen Sprachkenntnissen
Gebrauch machen? Offensichtlich nur im Rahmen der eigenen
Gruppe, wo sie das Romani sowieso sprechen. Ohne
dauerhafte gut finanzierte Anstrengungen zur Erhöhung der
allgemeinen Qualifikation und des kulturellen Niveaus dieser
Menschen,
was zu verbesserten Arbeitschancen und Abnahme der Kriminalität
führen könnte, sind die Probleme unter (und mit) den Roma kaum
zu beseitigen. Solche Anstrengungen könnte sich aber nur eine
wohlhabende Gesellschaft mit einer gezielten
Sozialpolitik,
funktionierenden Staatsinstitutionen
und mit
einem entwickelten
Bewußtsein für die Prioritäten der Moral erlauben. Und das
heutige Bulgarien ist leider weit davon entfernt.
Zwei Dekaden gezielte Liberalisierung im Bereich der Minderheitenpolitik
sind schon eine lange Strecke. Bulgarien der Minderheiten sieht
heute anders aus, als Bulgarien in den letzten Jahren des
kommunistischen Regimes.
Ich
möchte hier
nur zwei Punkte
erwähnen, die
auf eine Mentalitätsänderung hinweisen. Zum ersten ist der
Begriff „Minderheit“ selbst, der früher im politischen Lexikon
fast fehlte, wenn es sich um Teilgruppen handelte, die ein
anderes Identitätsgefühl hatten als die dominierende
Staatsnation. Heute spricht man weit und breit von Minderheiten,
wobei das Word allein mit einem definitiven Artikel (als
„die
Minderheit“) auch als eine sinnverwandte Bezeichnung für die
Roma benutzt wird. Man kann darin gewisse Nuancen der Nachsicht
oder der Herabsetzung erkennen. Doch dieser Ausdruck ist weit
milder, verglichen etwa mit
Benennung
wie
„die Gebräunte
(мургавите)“, geschweige
denn
von dem verächtlichen
Spottname Mangal (auch Mango, Mangasar).
Diese Formen sind in informalen Gesprächen unter
„dem
Volk“
im Gebrauch, während auf ein höheres Niveau und in der Presse
die politisch korrektere
Bezeichnung
der Zigeuner als „Roma“ verwendet wird. Das ist eine
qualitative Änderung und sie folgte nach
vielen
mühsamen
Diskussionen über die
Art und Weise, wie in den Nachrichten und im öffentlichen
Diskurs die Zigeuner zu bezeichnen sind. Wurde es früher bei
jedem berichteten Delikt, in dem ein Roma verwickelt
surde,
diese Tatsache von den Massenmedien kaum verschwiegen, wird
heute die ethnische Zugehörigkeit der Täter überhaupt nicht
erwähnt. Und das ist der zweite Punkt, worauf ich aufmerksam
machen möchte. Natürlich sinkt damit die Kriminalität nicht,
doch wird die Dämonisierung einer Gesellschaftsgruppe
vermieden, die wegen eines niedrigen Bildungs- und Sozialstandes
(auch wegen gewöhnlicher Elemente der traditionellen Kultur)
viel leichter geneigt ist, Normen und Gesetze zu brechen.
Es bleibt noch einiges
über die gegenwärtige Lage zu sagen. Die Tendenz der
Verminderung bulgarischer Bürger hält weiter an – sei es wegen
der höheren Sterblichkeit oder wegen der Emigration von Leuten
in einem arbeitsfähigen fertilen Alter.
Nach Angaben des
Nationalen
Statistischen Institutes
sank die Anzahl der ständigen Bevölkerung Ende 2008
auf 7 606 551
Menschen, also mit 322 350 Menschen
nach dem
letzten Zensus,
oder mit 33 700 Menschen (0,4%) im Vergleich zum
vorherigen Jahr
2007. Die
Fachleute wagen die Prognose zu machen, daß bei
den
ungünstigen sozial-ökonomischen Prozessen in Bulgarien seine
Bevölkerung im Jahr 2060 etwa die Zahl von 5 166 000
Menschen erreicht
(weniger, als
die 1926 registrierte
Größe
von
5 478 741
Menschen!).
Und das Problem liegt nicht in der Verminderung der totalen Zahl
bulgarischer Bürger, sondern in der Senkung des Bildungs- und
Kulturniveaus derjenigen davon, die das Bruttosozialprodukt
produzieren werden. Noch heute erreicht über 30% aller Kinder
(ausschließlich Romakinder) die Schwelle der Grundschulbildung
(die 6. Klasse) nicht. Damit müssen sie sich künftig mit nicht
qualifizierten Berufe begnügen, oder werden sie vom Arbeitsmarkt
ausgeschlossen. Dazu kommt die allgemeine Alterung der
Bevölkerung (von etwa 63% im Jahr 2010 bleiben 2060 die
arbeitsfähigen Bürger nur 50% und die im
Seniorenalter
werden in derselben
Zeit von 23% auf 37% anwachsen). Gewiss ist
das
kein bulgarisches Phänomen, sondern eine allgemeine europäische
Tendenz, die man teilweise mit Aufnahme von Immigranten (auch
aus der muslimischen Welt) zu modellieren pflegt. Doch in
unserem Falle,
wenn es sich nichts ändert,
wäre im Jahr 2060 das größte Teil der arbeitsfähigen Bulgaren
unterqualifiziert, was sich auf das Lebensqualität derjenigen
auswirkt, die
das Rentenalter
erreicht hätten. Und Muslime haben wir nach wie vor genug, um
noch weitere anzusiedeln, ohne das Risiko von einer Gefährdung
der kulturellen Balance.
Damit komme ich zum
Schluß. Wenn ich die heutige Lage der Minderheiten in großen
Zügen beschreibe, sind die folgenden „Snapshots“ zu merken:
Einen Teil wie Russen, Armenier, Griechen,
Ukrainer, Rumänen u. a. integrierten sich gut
in der
bulgarischen
Gesellschaft, stehen
kulturhistorisch und konfessionell der ostorthodoxen Mehrheit
sehr
nah und bieten ihr
keine Probleme
an. Die Juden
besaßen auch vor der Wende gute Positionen. Die Mehrheit
davon
gehörten zur Kategorie
der sogenannten „Aktiven Kämpfer gegen dem
Kapitalismus und
dem
Faschismus“ – eine
privilegierte Schicht, die sich auf viele Erleichterungen und
Vorteile erfreute, so beim Einschreiben zum Studium, bei
Ernennung auf einem Posten, beim Erhalten einer Wohnung usw. Die
überwiegende Mehrheit davon waren Mitglieder der KP, manche –
auf sehr hohe Positionen im Parteiapparat. Viel größer war
auch
die Anzahl der mit
Juden verschwägerten Bulgarinnen und Bulgaren – sie profitierten
von der
Verwandtschaft.
Nach der Wende
eröffneten
sich
nun weitere
Möglichkeiten. Manche Juden nutzten die Gelegenheit, sich als
israelische Staatsbürger zu registrieren. Andere schlossen sich
Stiftungen und NGO an, fanden gute Stellen in Wirtschafts- und
Finanzinstitutionen und trugen zum Aufbauen der bürgerlichen
Gesellschaft bei.
5071 bulgarische Bürger definierten sich beim Zensus 2001 als
Makedonier. Die Mehrheit davon stammten aus dem Gebiet vom
Blagoevgrad. Politisch werden sie von der 1999 registrierten,
doch bereits
2000 als
Verfassungswidrig erklärten Vereinigte Makedonische Organisation:
Ilinden-Pirin (OMO-Ilinden) vertreten. Die Situation
mit
der
Minderheit
schreibt sich in der bulgarisch-jugoslavischen Kontroverse um
Makedonien ein.
Und obwohl in der letzten Zeit einiges für die Verbesserung der
Beziehungen beider benachbarten Staaten und Nationen getan wurde,
sind noch viele Hindernisse in der mentalen Sphäre zu überwinden.
Weit
entspannter entwickelte sich die Situation mit den bulgarischen
Türken. In diesen langen Jahren lernte das Staatsvolk
ihre türkische Minderheit besser kennen. Der Hauptvertreter der
Türken und Muslime im Lande – die Bewegung für Rechte und
Freiheiten nahm auch christliche Bulgarinnen und Bulgaren in
ihren Reihen auf, um sich als eine nicht-ethnische nationale
Partei zu behaupten. Ein kluger Schritt seitens der
Parteiführung, die auf diese Weise mit genügend Fachkräfte für
die Repräsentation der BRF auf alle Verwaltungsebenen rechnen
könnte. Bereits seit den 90er Jahren spielte die „türkische
Partei“ eine wichtige Rolle im politischen Leben Bulgariens. Und
in unserem Jahrzehnt
war
sie schon
zweimal eine
mitregierende Partei.
Bis vor einigen Monate
hatte die Bewegung in
jedem Ministerium falls nicht einen Minister dann einen
stellvertretender Minister, sowie Leute auf zahlreiche
niedrigere Positionen. Es kann sein, daß einige davon ihr
Kompetenzniveau schon längst überschritten hatten.
Daher die Beispiele der Nichtbewältigung der Arbeit, aber auch
die Fälle einer Korruption, die doch gleich
auch
unter den Bulgaren in
solchen Positionen verbreitet sind.
Über die Roma
habe ich bereits einiges gesagt. Sie besitzen auch ihre eigenen
Vereine, die besonders bei Wahlen aktiv sind und um die größeren
politischen Subjekte gravitieren. Und was die
Pomaken
angeht,
bleiben
sie
weiterhin unter
gemischten
Einflüssen. Daher
die
Bestrebung nach einer ethnisch
neudefinierten
Identität. Der für den Islam gewonnene Raum wird durch Moscheen
markiert, sehr
oft mit
großzügigen Spenden aus der Türkei und
aus
der islamischen Welt
neugebaut – auch in Ortschaften, wo es früher
traditionell
keine Moscheen gab. Und
die muslimische Zugehörigkeit
dieser Bevölkerung
wird äußerlich
in der Bekleidung demonstriert, wobei nun auch – gewiss noch als
eine Rarität – arabische Elemente zu erkennen sind. Dies ist im
Einklang mit der Wohltätigkeit mancher Organisationen, sowie mit
den gezielt verbreiteten Vorstellungen (so in Saudi Arabien) von
einer islamischen oder gar arabischen Herkunft der „echten“
Bulgaren, wobei als solche auf dem Balkan nur die Pomaken in
Frage kämen.
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