Die Kumanen waren ein
kriegerisches Reitervolk, das drei Jahrhunderte lang die
Steppengebiete um das Schwarze Meer beherrschte, bevor es von
dem mongolischen Ansturm weggefegt wurde und sich seine
Splittergruppen in den vorhandenen oder sich in Prozeß der
Entstehung befindenden osteuropäischen Nationen einreihten.
Seine Rolle in der mittelalterlichen Geschichte des östlichen
Europas provozierte viele Untersuchungen, die eine umfangreiche
Literatur über die Sprache, die Herkunft, die ethnischen
Spezifika, die Geschichte, die Lebensweise und die Kultur der
Kumanen zustande brachten. Diese Literatur bildet die Grundlagen
der Kumanologie als eine komplexe Wissenschaftsdisziplin,
die der Kumanenforschung gewidmet ist.
Die kumanische Problematik ist
mit den vielseitigen Aspekten interessant – sowohl für sich
selbst, also in Anbetracht des anvisierten Volkes (oder besser
gesagt des ethnisch bunten Konglomerates, das man mit der Zeit
als Kumanen, Polovzen oder Kiptschaken zu
bezeichnen anfing), als auch in Verbindung mit der russischen,
ungarischen oder bulgarischen Geschichte. Sie ist ferner für die
Erforschung der euro-asiatischen Antike von Bedeutung, da manche
Elemente der Lebensweise, des religiösen Glaubens und des
Bestattungsrituals der Kumanen Ähnlichkeiten mit denen der alten
Thrakern oder Skythen aufweisen. Das Tragen von Zöpfen bei
Männern wurde z. B. nicht nur unter den Kumanen, den
türkisch-mongolischen Völkern und Chinesen, sondern auch unter
manchen skythischen Stämmen beobachtet. Das Ausschütteln aus dem
Köcher über den Verstorbenen von weißen und schwarzen Steinchen,
die als „Zeiger“ für seine gute und schlechte Tage dienten, so
wie dies im ältesten russischen Epos, das berühmte Igorlied
(das Слово о
полку Игореве)
dargestellt wurde, hat auch Parallele in einer älteren
skythischen Praxis. Das rituelle Trinken von einem
„gesichtsähnlichen“ Becher, d. h. von einem Gefäß, das aus einem
mit Leder und Silber oder mit Gold beschlagenen Schädel eines
berühmten Gegners hergestellt wurde, wurde nicht nur bei den
Petschenegen, ProtoBulgaren und den „östlichen Hunnen“ (die
Hsiung-nu), sondern auch bei einer Reihe viel älteren Völker
bezeugt. Die Kurghan- (d. i. die Großhügel-) Bestattungen
stellen einen allgemein eurasischen Brauch dar, dessen Wurzel
bis in die ersten Jahrtausende vor Christi zurückverfolgt werden
können. Das Bringen von Menschenopfer führt seinerseits zu den
Frühkulturen des Neolithikums und der Bronzezeit, worin
vielleicht auch die Ikonographie der mit beiden Händen einen
Becher vor dem Nabel haltender Ahnenbilder zu datieren ist.
Ähnlich wie die alten Türken
(die Türküten, die T’u-kiue) ehrten auch die
Kumanen den heiligen „grauen Wolf“ (boz
kurt,
босый волк),
glaubten an seine magische Kraft und an die Fähigkeit des
Schamanen, sich in Wolf (als Verwolf, sic!) zu
verwandeln. Diese Vorstellungen waren allerdings sehr alt und
nicht unbedingt „altaisch“. Sie wurden von den eingeborenen
Einwohnern Nord- und Mittelamerikas geteilt und bei den
europäischen Völkern bezeugt, einschließlich bei den Thrakern
(Thraziern), die den Wolf als einen Vermittler zwischen den
Welten der Lebendigen und des Jenseits betrachteten.
Offensichtlich nahmen ihn auch die Kumanen in einer solchen
Funktion wahr, weshalb Khan Bonjak im Wolfsgeheul ein
Omen und eine Antwort seiner Vorfahren auf die Frage nach dem
Ausweg der bevorstehenden Schlacht mit den ungarischen Rittern
erblickte. Es sind auch weitere Beispiele vorhanden, womit die
Kumanen als ein laufendes Glied in der langen Kette von
Mediatoren und Rezipienten älterer kulturellen Phänomene
erscheinen.
Doch nicht nur im Zusammenhang
mit den Skythen und Protobulgaren, sondern auch mit Rücksicht
auf die Probleme der neuzeitlichen Geschichte ist das kumanische
Thema sehr aktuell. Sie trägt zur Erforschung der Mechanismen
beim Formieren und Desintegrieren der Nationen bei, welche
Mechanismen sich heute von denjenigen der späten Mittelalter
nicht wesentlich unterschieden. Die Erforschung dieser
Umwandlungen im Vergleich zur Entstehung der Nationen in Europa
und woanders in der Welt könnte beim Konstruieren entsprechender
Modelle vom Nutzen sein, welche Modelle die Möglichkeit
einer Unterstützung, einer Entwicklung oder auch einer Änderung
kollektiver Identität[en] erklären. Auch die Spekulationen mit
der Rolle der Kumanen in der Genese einiger Minderheiten (so
etwa der Pomaken in Bulgarien, der Tschango in
Moldau usw.) oder etwa für das „Kristallisieren“ des rumänischen
Staates schreiben sich in der ideologischen Konfrontation und
Propaganda von erst in der Neuzeit entstandenen national[istisch]en
Konzeptionen. Somit geht die Kumanologie aus den allgemeinen
Rahmen heraus, die von dem Forschungsobjekt bestimmt wurden, und
wird zu einer Brücke zwischen verschiedenen Epochen, was die
diachronische Aufdeckung vergleichbarer Tatsachen, Erscheinungen
und Prozesse ermöglicht.
* * *
Die Kumanen selbst erreichten
das Gebiet der osteuropäischen Steppe gleich nach dem Untergang
des chasarischen Reiches im Laufe einer größeren
Völkerwanderung, die ihren Anstoß weit östlich an die Grenzen
Chinas erhielt und verschiedene Völker als eine Kettenreaktion
umfaßte, bevor sie in Richtung Byzanz abklang. Im Jahr 6503 von
der „Weltschöpfung“ (Anno 1055 n. Chr.)
erschienen die Kumanen im Blickfeld der Russen – damals „Приходи
Б(о)лушь съ Половци и створи Всеволодъ миръ съ ними и
возвратишася вспять восвояси отнюду же пришли”
(„es kam B[o]luš mit Polovcen
und erschuf Vsevolod einen Friede mit ihm [/ihnen] und kehrten
sie in sich erneut zurück, woher sie kamen“). Die erste
Begegnung war friedlich, doch erlitt Vsevolod im Jahr 1061 von
dem nächsten Khan Sokal (Sakal, Iskal) schon eine Niederlage. Im
Jahr 1067 oder 1068 wurden die vereinigten russischen Fürsten
beim Fluß Al(u)t(a) von den Kumanen besiegt, die dann ihre
Gebiete plünderten. 1068 traten Kunen (oder Petschenegen)
in Siebenbürgen ein, wurden aber vorerst von dem ungarischen
König Salomon vertrieben. Offensichtlich bemächtigten die
Ankömmlinge zwischen 1068 und 1071 der ganzen Moldau. Im Jahr
1071 drang eine Gruppe davon unter der Führung des Khanen Osul
vom NordSiebenbürgen ins Ungarn ein und 1077 (oder 1078)
erschienen die Kumanen erstmals auch südlich der Donau.
Im Byzanz kamen sie zuerst als
petschenegische Verbündete, dann halfen sie dem Kaiser gegen den
Petschenegen und schließlich fingen die Kumanen auch an,
Raubzüge auf eigene Kosten zu unternehmen. Auf dem Balkan ließen
sie sich hauptsächlich im heutigen rumänischen Tiefland nieder –
dort im OstWalachei (in Muntenien) findet man die meisten
Toponyme und Hidronyme einer kumanischen Herkunft, dort
lokalisieren die Forscher auch eine regionale Sondergruppe der
Kumanen, die zwischen den Karpaten, der Unteren Donau und dem
unteren Lauf von Pruth beheimatet war. In diesem Rahmen bewegten
sich die Nomaden den Jahreszeiten entsprechend – im Sommer in
die frischen Gebirgsweiden und im Winter in die milderen Klima
weit südlich – also in einem Rhythmus nach den Spezifika ihrer
transhumanen Viehzucht, was auch die Zeit der kriegerischen
Einfälle über der Donau bedingte. Diese Einfälle intensivierten
sich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in welcher Zeit
auch den Beginn kumanischer Ansiedlung im byzantinischen Bereich
anzusetzen ist. Dies bezeugt ein Prostagma (eine
Urkundenart) des Kaisers Andronikus I. Komninus aus dem Jahr
1184, worin auch von Kumanen Proniaren (also von einer
Art Grundbesitzer) im Gebiet von Moglena, südöstlicher
Mazedonien, die Rede ist. Sie wurden neben bulgarischer und
wallachischer Landbevölkerung vermerkt, wo vorher
petschenegische Splittergruppen angesiedelt wurden. Aber auch in
anderen Teilen des Balkans (so in Serbien und Kosova, im
Griechenland oder in der Türkei) trifft man Spuren von den
Kumanen, und zwar in denselben Regionen, wo sich früher Gruppen
weiterer mittelalterlichen Türken vorfanden. Wie es scheint,
breiteten sich die Kumanen fast überall auf dem bulgarischen
ethnischen Territorium aus, so in Teilen Mazedoniens, im Gebiet
von Sofia, Tărnovo und Silistra, um die Städte Vratsa, Vidin und
Kotel, in den Siedlungen um Pleven, Loveč, Pernik usw. Größere
Gruppen dieses Volkes ließen sich im nordöstlichen Bulgarien
nieder – dort, wo früher Teile der
Petschenegen und Uzen angesiedelt wurden und wo Jahrhunderte
vorher Protobulgaren wohnten. Mit der Zeit
integrierten sich die Ankömmlinge in dem neuen ethnokulturellen
Milieu, behielten Elemente der eigenen traditionellen Kultur
bei (sie finden sich bei manchen ethnographischen Gruppen)
und bildeten diejenige Bevölkerung mit einer
gemischten ethnischen Herkunft, die in den byzantinischen
Quellen als „Mixobarbaren“ bezeichnet wurde.
Dazu gehörten auch die Gründer
des Zweiten Bulgarischen Reiches, die Gebrüder Peter und Assen.
Der Name des jüngeren Bruders
Assen,
der nach den alten hunnischen Tradition den Beinamen
Belgün
(aus türk. bilgün,
bilgin „der
Wissende, der Weise“) trug, ähnelte den Namen des polovcischen
Fürsten Ossen (Assen),
also den des Vaters des in den russischen und byzantinischen
Quellen oft erwähnten großen kumanischen Khanen Bonjak.
Somit könnte man mit aller Vorsicht die Vermutung äußern, daß
die bulgarischen
Asseniden
Nachfahren des ersten fürstlichen kumanischen „Hauses“ waren.
Dies erklärt auch den Beistand, der sie ständig von den Kumanen
erhielten, einschließlich bei den Feldzügen des Zaren Kalojan,
der am 15. April 1205 bei Adrianopel den lateinischen Rittern
vernichtend schlug, wobei ihrer Konstantinopels Kaiser
Balduin von Flandern den Rest seines Lebens als Gefangene in
Tărnovo verbringen mußte. In der Folgezeit findet man oft
bulgarische Würdenträger mit einem türkischen Vornamen, was mit
der Ansiedlung kumanischer Elemente auf dem Balkan zu erklären
ist. Auch die Dynastie der
Terteriden,
die seit 1280 mit dem Zaren Georgij I. Terter in Bulgarien
regierte, entstammte der führenden kumanischen Sippe
Terter-oba,
die sich mit dem Khan Kuthen (Kotjan) nach der Niederlage bei
Kalka (1223) in Ungarn und dann in Bulgarien niederließ.
Kumanischer Herkunft hatte der Despot
Balika,
dessen Nachfolger ihren Grundbesitz in der Dobrudscha fast
unabhängig regierten. Wenn man nach dem Name schließen darf,
sollten auch die
Šišmaniden,
die letzte Dynastie im mittelalterlichen Bulgarien vor dem
Einbruch der Osmanen, einer gemischten (bulgarisch-kumanischen)
Herkunft gewesen sein. In den frühen osmanischen Land- und
Bevölkerungsregistern aus dem 15. Jahrhundert finden sich
vielerorts christliche Bulgaren mit türkischen Namen
eingetragen, was auf die vorosmanischen türkischen Elemente (vor
allem auf Kumanen) hindeuten könnte. Solche onomastische Spuren
gibt es auch in den benachbarten Ländern. Splittergruppen dieser
Reiterkrieger lebten ferner in den anderen Teilen des Balkans,
die heute zur Türkei, zum Griechenland, zu Mazedonien, Serbien
oder Kosovo gehören. Ähnlich wie in Ungarn (wo diese
Transformationen besser verfolgt worden sind) ließen sich die
Kumanen auch auf dem Balkan in die örtliche Bevölkerung
assimilieren und beteiligten sich in die integrierende und
differenzierende Prozesse, die die Nationsbildung in der Region
charakterisierten. Dabei sollte auch hier das Sesshaftwerden der
Nomaden eine ungewisse Zeit in Anspruch nehmen (in Ungarn
dauerte dieser Vorgang etwa zwei Jahrhunderte) und je nachdem,
ob sich die Ankömmlinge auf dem Land und in den Städten als
Söldner, Handwerker und Beamten niederließen, oder aber –
zumindest am Anfang – ihre herkömmliche Viehzucht weiter treiben
konnten, entwickelten sie mit der Zeit unterschiedliche
kulturelle, später auch ethnische (bzw. nationale) kollektive
Identitäten.
* * *
Was ist aber aus dieser – wie
wir es sehen – zahlenmäßig nicht so kleinen ethnischen
Komponente geblieben? Um die Frage beantworten zu können, muß
man vorher die Spezifika des kumanischen Volkes und seiner
Nachfahren besser erforschen, besonders in Hinsicht auf ihre
Lebensweise, wirtschaftliche und soziale Organisation,
materielle und geistliche Kultur. Gewiß erfahren wir aus den
zeitgenössischen Informationen einiges über den damaligen „Clash
of Civilizations“, doch wurde dies – wie erwartet – durch die
Brille der Vertreter einer sedentaren Welt angesehen. Daher
finden sich nur dürftige Einzelheiten über das Wesen der Nomaden
selbst, d. h. wie sie es wirklich waren und „unter sich“ lebten,
was bewegte sie im Alltag und wie nahmen sie das Milieu ihres
„eigenen“ und des „fremden“ Universums wahr. Aber das ist
vielleicht auch das Schicksal jedes schriftlosen Volkes, worüber
man eine Auskunft lediglich aus seinen „zivilisierten“ Nachbarn
erhält, die sich von ihm bedroht fühlten und es deshalb mit
Vorurteilen begegneten.
Sowohl im politischen, als auch
im ökonomischen und geistlichen Bereich änderte sich die
Gesellschaft der Kumanen allmählich. Diese Änderungen sind ein
Zeugnis dafür, daß trotz ihrer scheinbaren „Erstarrung“ die
nomadische Zivilisation nicht so „unbeweglich“ war, wie man
annimmt. Selbstverständlich bewahrten die Gruppen, die das
Innere der Steppe bewohnten, für eine längere Zeit ihre alte
Lebensweise, während die aus der Peripherie des Nomadenlandes
viel spürbar die Impulse der sedentaren Welt fühlten. Sie wurden
schneller von technischen und kulturellen Innovationen erreicht,
die – einmal angenommen und für das nomadische Milieu angepaßt –
viel weiter übertragen wurden. Und umgekehrt – eben die
Reitervölker waren mit ihrer Fertigkeit, die Traditionen zu
pflegen, die besten Träger und „Überbringer“ der von den alten
Kontakten ihrer Vorläufer geerbten Elemente (Sprachtermini,
Organisationsformen usw.). Damit erschienen sie als eine Art
Vermittler zwischen den zeitlich und örtlich weit entfernten
Kulturen. Hierher gehörten auch die Kumanen, in deren
politischen und sozialen Struktur, Kriegskunst, Wirtschaft und
Kultur nicht selten Modelle wiedergeben wurden, die wohl in
anderen Orten und Zeiten entstanden worden sind.
Die Einordnung der Sippen in
„Flügeln“ stellt z. B. einen Ausdruck des militärischen
Strukturieren der Gesellschaft dar, was eine sehr alte, den
frühen Reitervölkern entlehnte, Praxis widerspiegelte. So
bildeten die Kumanen beim Feldzug zwei große Flügel, wobei der
linke von dem ranghöheren Fürst/Khan geführt wurde. Nach dem
selben Prinzip teilten sie aber auch das von ihnen beherrschtes
Land auf, deren Bevölkerung mit einem solch bunten ethnischen
Bestand war, daß man mit Recht von einer Poliethnizität und
Mehrsprachigkeit im Gebiet Kumanien reden darf. Darin
spielte das Kumanische die Rolle eines Vermittlers, was seinen
Einfluß etwa auf das Karaimische und das
Armenisch-Kiptschakische erklärt. Aber auch die Sprache selbst
(oder besser gesagt ihre Mundarten) wurde der Wirkung den
unterschiedlichen Idiomen der Bulgaren, Chazaren, Russen,
Magyaren, Petschenegen, Uzen, Griechen, Jassen usw. ausgesetzt
und das wirft ferner die Frage auf die noch unerforschten
Substrat- und Superstratelemente im Kumanischen auf. Ähnlich ist
es sehr schwierig, das kumanische Lehngut in den Dialekten
Südosteuropas präziser zu identifizieren und es von den Relikten
der übrigen vorosmanischen Türksprachen der Region oder der
osmanisch-türkischen Mundarten auf dem Balkan abzugrenzen. Daher
die Fälle ihrer irrtümlichen Betrachtung pauschal als
„türkische“ (also „türkei-türkische“ oder „osmanisch-türkische“,
d. i. engl.
turkish
und nicht
turkic)
Elemente in den jeweiligen Sprachen. Wenn wir jedoch etwa das
bulgarische Wort
šiš-ko (Dicker)
in Verbindung mit dem alten dynastischen Namen
Šiš-man
(Dickmann) aus dem türkischen Verb
šiš-mek
(dick werden, dick sein)
erklären, brauchen wir nicht an die Sprache der erst später auf
dem Balkan aufgetauchten Osmanen denken. Solche Beispiele gibt
es ja genug und zwar nicht nur aus dem Bereich des Bulgarischen.
Aber auch außerhalb der
linguistischen Sphäre blieben Spuren von den Kumanen. Als
Reitervolk züchteten sie zahlreiche Tierarten – sowohl Pferde,
Schaffen und Ziegen, als auch Großvieh. Darunter befand sich
vielleicht das spezifische graue, d. h. „blaue“ Rind, das in
Bulgarien (im IskărTal), in Ungarn, sowie in NordKaukasus etwa
unter den Kumüken (als
kuba ögüz
„blauer Stier“) einheimisch
wurde. Groß war die Vielfalt der Hunde (Peter Golden, einer der
besten zeitgenössischen Kenner dieses Volkes, zählt etwa 18
Benennungen für „Hund“) und höchstwahrscheinlich brachten eben
Kumanen den langhaarigen Schäferhund
Komondor
mit sich nach Europa.
Einiger Quellen zufolge gab es in Ungarn während des 13.
Jahrhunderts auch eine kumanische Pferderasse, die sich von den
übrigen stark unterschied. In dieser Hinsicht könnte man sogar
vermuten, daß manche für die ungarische und bulgarische „Küche“
so typische Arten von Fleischprodukte (etwa die getrockneten und
geräucherten Arten von Salami mit türkischen Namen wie
pastırma,
sızdırma,
babek,
sudžuk
usw.) in Europa zusammen mit den Reitervölkern eingeführt
wurden. Auf jeden Fall hat das ungarische und bulgarische Wort
kolbas
(Wurst) wahrscheinlich schon
eine kumanische Herkunft und es ist nicht auszuschließen, daß
auch die Tataren manche kulinarische Spezialitäten von den
Kumanen übernommen hatten. Doch obwohl die Viehzucht eine
dominante Stelle in der nomadischen Wirtschaft einnahm, kannten
die Kumanen auch Getreidekulturen, Obst und Gemüsen,
einschließlich die Zucker- und Wassermelonen, deren Bezeichnung
sich im Ukrainischen (kavun)
von der in der russischen Sprache (arbuz) unterschied,
allerdings mit dem Wort
caun
für Wassermelone
im „Codex Cumanicus“ übereinstimmt.
Dies ist ein Zeichen dafür, daß
der Prozeß der Niederlassung schon in den alten Gebieten
nördlich des Schwarzen Meeres anfing und von der Umwandlung der
zeitweiligen Winterlager in dauerhaften Ansiedlungen oder vom
Anpassen an die eigenen Bedürfnisse von schon verfallenen
Ortschaften begleitet wurde. Nach dem mongolischen Ansturm
beschleunigte sich das Sesshaftwerden unter den kumanischen
Migranten in Ungarn und auf dem Balkan so, daß sie im 14.
Jahrhundert schon fast vollständig sedentarisiert wurden. Dies
traf besonders diejenigen Nomaden zu, die sich schneller ans
neue seßhaftes Milieu anpaßten und sich als Söldner, Handwerker
oder gar Landwirte in die örtliche Stadt- und Landbevölkerung
integrierten, wobei spezifische ethnographische Lokalgruppen
herausgebildet wurden, während andere Kumanen, die für eine
längere Zeit ihre Lebensweise als Viehzüchter aufbewahrten, sich
eher den Hirtengemeinschaften der Walachen, Albaner,
Karakatschanen u. a. assimilieren ließen.
* * *
Die ethnische Assimilation der
einstigen „Herren der Steppe“ wundert uns nicht. Sie ist kaum
mit einer Nachgiebigkeit der Nomadenkultur gegenüber den
Außeneinflüssen verbunden, noch war sie übertrieben schnell –
eigentlich sollte eben dies das Geheimnis ihres Erfolges sein,
da die in allen Himmelsrichtungen zerstreuten kumanischen
Nachkommen sich in Magyaren, Rumänen (also Wallachen und
Moldauer), in Bulgaren, Mazedonier und Serben, in Albanen und
Griechen, in Gagauzen, Ukrainer und Russen, in Georgier und
Daghestaner, in Kumüken und Karatschaier, in Tataren, Kasachen
und sogar in Araber (die Mamluken in Ägypten stammten eben aus
dem „Kiptschak“) verwandelten. Ihr Schicksal zeigt uns, wie bei
ungleichen Lebensbedingungen, die von unterschiedlicher
geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umgebung,
Sprachmilieu und konfessioneller Zugehörigkeit verursacht
wurden, eine ethnische Gemeinschaft, obwohl nicht homogen doch
immerhin einst existierende, sich in vielen miteinander nicht
mehr verbundenen Elemente zerstreut.
Und das ist die Lehre, die sich
aus dem Nebel der Jahrhunderte ergibt, nämlich, daß es sich mit
der Zeit alles ändert, auch die Religionen, die Kultur und den
ethnischen Bestand eines Volkes, geschweige denn von einer
modernen Nation. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß die
heutigen Nationen auf dem Balkan irgendwie direkte Nachfahren
der antiken Völker in der Region (also der alten Bulgaren,
Griechen, Thraken, Dazier, Illyren, Mazedonier oder gar auch
Hetthiter) seien. Eine solche Vorstellung mag während der
Nationsbildung und im 19. Jahrhundert plausibel erschienen, ist
aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur wissenschaftlich
unkorrekt, sondern auch politisch gefährlich. So werden neue
künstliche Identitäten konstruiert (etwa unter den Pomaken, den
Albaner oder den Kosovo-Ägypten), die die schon vorhandenen
Gemeinschaften schwächen, zerstückeln und auflösen könnten. In
diesem Sinne lernt uns die Kumanenforschung, auch
vorsichtiger mit der eigenen Gegenwart umzugehen. |